Das Rad der Geschichte
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— Glaskastendiplomatie, Zuckerbrot wie Peitsche allzu naiv anwendend —, der besticht, Kreaturen wie Nippold befördert, Zeitungen, Bücher und „Deutschland, Deutschland über alles" verbietet, er erreicht am Ende doch! nur, daß der ach so leicht einzuschläfernde Deutsche, der so bequem abzufinden und! selbst mit der Knechtschaft vielleicht zu versöhnen wäre, aufwacht, den Erbfeind wieder wie in früheren Jahrhunderten spürt und diesen mit tausend Nadelstichen von einer Ecke Deutschlands zur anderen herumarbeitenden Zwingherrn sich recht genau besieht, schließlich sogar sich vielleicht Sedans erinnert und des schon so vergessenen Ruhms in den tausend Schlachten des Weltkrieges, Freilich „väsrint, cluin uistuaiit", sagt Clcmenceau mit Tiberius: auf den deutschen Haß hat sich der Franzose schon eingestellt, obwohl er ihn selbst erzeugt hat. Darum soll das deutsche Volk ja so künstlich und verzwickt gefesselt werden, wie Gulliver von den Liliputanern. Aber glaubt Frankreich wirklich, daß die an sich stärkere Volkskraft Deutschlands durch Knebelungen auf die Dauer niedergehalten werden kann? Würde nicht bei der ursprünglichen Versöhnungsneigung unsres Volkscharakters die entgegengesetzte Politik für Frankreich selbst weit weniger gefährlich und dabei nutzbringender sein? Aber diese Überlegung hat keinen Zweck, die Franzosen nehmen sie eben einfach nicht an. Und so sind sie auf dem besten Wege, Deutschland abermals zusammenzuschmieden, je unausweichlicher jedem Deutschen ihre Fremdherrschaft ins Gefühl zu treten beginnt.
Insbesondere wollen sich die Franzosen einige Menschenalter hindurch von uns füttern lassen, wobei indes unser Land jedes Jahr ärmer, menschenleerer und kraftloser werden, dennoch aber für den Unterhalt der französischen Nation in großem Umfang auskommen soll. An sich ist gewiß, daß bei freiem Spiel der Kräfte die Deutschen dank ihrer Organisation als unpolitisches Arbeitsvolk von allen kriegs- geschädigten Nationen am raschesten wieder zu Wohlfahrt kommen würden, und es wäre in dem Zeitalter neuer Wirtschaftsorganisation und Erfindungen, das uns vermutlich bevorstünde, falls nicht die Franzosen Europa in kriegerischem Wirrwarr hielten, an sich Wohl denkbar, daß wir die europäischen Nachbarnationen die Früchte unseres Fleißes dauernd miternten ließen, nachdem unser Anlauf zur freien Weltmacht einmal unwiderbringlich gescheitert ist. Aber dann müßten wir wenigstens eine freie europäische Macht sein. Der Absturz von den Zuständen, die uns noch vor sechs Jahren selbstverständlich und scheinbar unerschütterlich umgaben, ist immer noch unermeßlich, wenn wir jetzt etwa wie Italien oder Spanien leben und uns selbst regieren dürften. Allerdings würde dann nicht nur uns selbst überlassen bleiben müssen, in welcher Weise wir die Kriegsentschädigung aufbringen. Es würde uns nicht nur eine Wehrmacht gestattet werden müssen, die wenigstens der Wehrmacht Polens oder Belgiens gleichkommt. Sondern auch der Gedanke der Selbstbestimmung, den Wilson doch für die Schleswiger, Ostpreußen und Oberschlesier gerettet hat, könnte dann den Elsässern, Westpreußen und Österreichern auch nicht vorenthalten bleiben. Die Letzteren beiden würden sich mit dem Mutterland wieder vereinen, die Elsässer würden die Fähigkeit der Deutschen als europäischen UrVolks zu immer neuen Staatsabsplitterungen betätigen, indem sie einen eigenen Staat, wie die Niederländer oder Schweizer bilden würden, wobei immerhin ihre Volksart vor der Verwelschung geschützt bliebe. Schließlich würden auch Russen und Deutsche das tun müssen, was in französischen Augen ihr höchstes Verbrechen ist, nämlich! sich zu beiderseitigem Wiederaufbau wirtschaftsfriedlich zusammenfinden.