Zusammenbruch und Wiederaufbau
von Professor Dr. Lritz Härtung
aß das alte Deutschland zusammengebrochen ist, darüber braucht uian heute nicht mehr viele Worte zu machen. Politisch, wirtschaftlich, moralisch stehen wir vor dem Ruin; wieder wie einst im Jahre 1806 könnte heute eine Broschüre geschrieben werden über Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung. Die Hoffnungen, die die Sozialdemokratie auf die Revolution gesetzt hat, sind nicht erfüllt worden. Nicht nur das Ausland hat sie enttäuscht, indem es uns statt des Verstänoigungsfriedeus den Bersailler Frieden diktiert hat, auch das eigene Volk beweist nicht die politische Reife, die ihm zugetraut worden ist. Für unS, die wir an Weltgewissen und Völkerverbrüderung nie geglaubt, die wir die einseitige Betonung der inneren Politik und in dieser die einseitige Klassenpolitik der Sozialdemokratie stets bekämpft haben, wäre es leicht, uns mit einer gewissen Schadenfreude von der Not unseres Volkes abzuwenden, uns darauf zu berufen, daß wir die unerbittliche Notwendigkeit der Bewahrung unserer Macht immer betont haben, und es den heute regierenden Parteien zu überlassen, die Dinge besser zu machen als das von ihnen geschmähte alte Negierunghsustem.
Aber nicht nur zur hämischen Schadenfreude, auch zur müden Resignation ist die Lage zu ernst. Deutschlands Erneuerung ist - di6 Aufgabe, die uns gestellt ist; an ihr müssen wir alle mit allen unseren Kräften mitarbeiten. Gerade wer sich als Gegner des heutigen Regimes fühlt, wer brennende Scham darüber empfindet, daß Dilettanten und Demagogen den letzten Rest von Bismarcks Erbe verwirtschaften, gerade der hat die Pflicht, nicht bloß über die Schlechtigkeit der Zeit und der Menschen zu klagen, sondern am Wiederaufbau Hand anzulegen.
Freilich ist die Lage so trostlos, daß der Zweifel wohl entstehen kann, ob wir überhaupt noch die Kraft haben werden, uns dereinst zu erheben. Mag auch manches als Nervenzusammenbruch nach vierjährigen Entbehrungen und als Revolutionspsychose zu erklären sein, so treten doch auch manche alte Charakterfehler des Deutschen in dieser Krisis häßlich zutage, vor allem die gehässige Tad-Isucht, di- alle Schuld auf den Nächsten abzuwälzen sich bestrebt, und der Hang nach Freiheit, nach „Libertät", wie es früher hieß, der lieber Grenzboten III 1919 23