Die altdeutsche Malerei als Aulturproblem
von Vf. R, Schacht
!ie spontane d. h. nicht durch Notwendigkeiten des wissenschaftlichen Ausbaus bedingte Wahl neuer kunstgeschichtlicher Forschungsgebiete läßt stets mit Sicherheit auch auf eine ihr zugrunde liegende Wandlung des Zeitgeistes in künstlerischer Hinsicht schließen. Und wenn nach jahrzehntelanger Pause binnen weniger Jahre auf einmal drei zusammenfassende Werke über altdeutsche Malerei erscheinen, denen dann noch eins über die altdeutsche Plastik an die Seite tritt, so muß das nachdenklich stimmen. Es deutet darauf hin, daß man in der altdeutschen Malerei etwas Neues sieht, sich auf Grund veränderter künstlerischer Anschauungen anders zu ihr einstellt, sie anders und — das versteht sich wohl von selbst — höher wertet. Damit zugleich ist gegeben, daß man die Kunstepoche, die vorher im Mittelpunkt des Interesses stand, die Renaissance, in der subjektiven Achtung sinken läßt. Man kann diese Umwertung in der Kunstgeschichte schrittweise verfolgen. Ihre heute lebenden älteren Vertreter haben, bis auf die Spezialforscher, die es natürlich immer gegeben hat, alle das Erbe jener Generation angetreten, die sich am schlagendsten in dem Namen Hermann Grimms zusammenfassen läßt, alle haben über irgendeinen großen Meister der italienischen Renaissance gearbeitet, alle erblickten in der Renaissance einen Gipfelpunkt der Entwicklung, und der große Erfolg von Wölfflins schönem Buch über die „Klassische Kunst" ließ erkennen, daß auch das große Publikum willig den Führern folgte.
Nun aber ist zweierlei auffällig. Einmal, daß kein neuer Raffael geschrieben wurde, der doch die im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts lebendigen Tendenzen zusammenfaßt wie kein anderer, und zweitens, daß das folgende größere Werk Wölfflins — Dürer behandelte. Diese beiden Tatsachen deuten darauf hin, daß man das „Klassische" nicht im Sinne des Klassizismus, dem gerade Raffael als das Höchste gegolten hatte, ansah, sondern etwas anderes suchte. Man sehnte sich — auf jeder Seite von Wölfflins „Klassischer Kunst" ist das zu spüren — nach Klarheit der Anschauung, nach beruhigter Fülle der Empfindung, nach reifer Größe, aber man wollte den machtvollen Impuls, den lebendigen Drang der Persönlichkeit nicht aufgeben. Nicht der ruhig erntende, zusammenfassende, in der Handschrift aber leicht unpersönlich werdende Raffael, sondern der eigenwilligste Geist des Zeitalters, Michelangelo,