Rudolf Gneist
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Wenn auch 1875 die Berufung in das Oberverwaltungsgericht und 1884 die in den Staatsrat erfolgte, als Minister wollte er ihn nicht haben.
In desto engere Verbindung trat Gneist als liberaler Staatsmann und wegen seiner englischen Neigungen zu dem kronprinzlichen Hofe, zur Kronprinzessin Viktoria und dem von ihr beherrschten Kronprinzen. In den Ministerlisten, die für den Zeitpunkt des Regierungswechsels vorbereitet waren, spielte der Name Gneists immer eine hervorragende Rolle. Doch der Kronprinz war zu langem Warten verurteilt. Als endlich die Unglückszeit der neunundneunzig Tage herankam, war zu umwälzenden Taten der Regierung weder Zeit noch Kraft mehr da. Nur den Adel hatte Gneist wie so mancher andere der Regierung des bürgerfreundlichen Herrschers zu verdanken. Von jenem stolzen Bewußtsein eines Gustav Freylag, im Reiche der Geister gefürstet zu sein und deshalb einen Adelsbrief als eine Herabwürdigung zu empfinden, war er weit entfernt.
Doch für die Zukunft dachte Kaiser Friedrich noch vorzubauen, indem er Gneist bestimmte, dem nunmehrigen Kronprinzen staatsrechtliche Vorträge zu halten. Der junge Fürst, der sich berufen fühlte, bald selbst die Krone zu tragen, konnte es kaum angenehm empfinden, wenn ihm noch ein staatsrechtlicher Lehrmeister gegeben wurde. Wenigstens war diese Stellung keine Empfehlung für den neuen Herren. Doch ernannte ihn dieser wenigstens noch am 27. Januar 1895 zum Wirklichen Geheimen Rate mit dem Prädikate Exzellenz.
Mit dem Regierungswechsel von 1888 kann man daher die politische Wirksamkeit Gneists als im wesentlichen abgeschlossen betrachten. Schon 1884 war er aus dem Reichstage ausgeschieden, 1893 verließ er auch das Abgeordnetenhaus. Doch bis zuletzt blieb er seiner akademischen Lehrtätigkeit und dem Oberverwaltungsgerichte treu. Auch seine literarische Tätigkeit rastete nicht. Noch kurz vor seinem Tode erschien seine letzte Schrift über die ver- fafsungsmäßige Stellung des preußischen Gesamtministeriums.
Er starb am 22. Juli 1895.
Ein Leben voll Mühe und Arbeit lag hinter ihm. Von Ehren überhäuft am Ende seines Lebens, konnte er mit Befriedigung auf sein Werk zurückblicken. Freilich nicht alle Blüten waren zur Frucht gediehen. Und wenn die staatsrechtliche wie die politische Entwicklung bald andere Bahnen einschlug, als er ihr in seinen Gedanken vorgezeichnet, so hatte er wenigstens stets das Beste für seines Vaterlandes Größe gewollt. War er einst als Gelehrter wie als Staatsmann hochgepriesen, so gehört er heute beinahe zu den Vergessenen. Doch das ist Menschengeschick, daß die Entwicklung der Zeit über den einzelnen hinweggeht. Auch hier gilt das Dichterwort:
Denn, wer den Besten seiner Zeit genug
Getan, der hat gelebt für alle Zeiten.
Grenzboten III 1916
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