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Rudolf Gneist : zum hundertsten Geburtstage am 13. August 1916
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Rudolf Gneist

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Abgeordnetenhause, später auch im Reichstage. Diese Zeiten werden gekenn­zeichnet einmal durch den Konflikt über die Armeereorganisation und dann durch den Kulturkampf. In beiden Fragen ließ Gneist, in einem engherzigen Bannkreise von juristischen Paragraphen umfangen, den weiten staatsmännischen Blick vermissen und gehörte daher zu denjenigen, über deren politische Wirk­samkeit die Geschichte zur Tagesordnung überging.

Es ist heute kein Wort mehr über jene politischen Schwärmer ohne jedes realpolitische Denken zu verlieren, die zwar die Einigung Deutschlands wollten, aber dem preußischen Staate das einzige Mittel zur Erreichung jenes Zieles, ein starkes Heer, zu beschneiden beabsichtigten. Das war die erbliche Be­lastung aus einem gänzlich unpolitischen Zeitalter, die erst unter BiSmarcks Schulung einer realpolitischen Richtung gewichen ist. Bedenklicher war es, daß Gneist mit unzureichenden Gründen die Gesetzwidrigkeit der Armeereorganisation nachzuweisen unternahm und dabei dem Kriegsminister von Roon im Ab­geordnetenhause sogar vorwarf, er trage das Kainszeichen des Eidbruches an der Stirn. Über die Irrtümer der Konfliktszeit gingen die Ereignisse des Jahres 1866 zur Tagesordnung über. Das, was Gneist für Preußen als bereits geltendes Recht behauptet hatte, die gesetzliche Grundlage der gesamten Heeresverfassnng, wurde tatsächlich erst im neuen Bundesstaate verwirklicht. Damit wird für uns die Konfliktszeit zur abgetanen geschichtlichen Episode. Gneist hat selbst ihre Irrtümer anerkannt, indem er sich nunmehr der neuen national­liberalen Partei anschloß, die die Bismarcksche Politik zu unterstützen übernahm.

Die katholische Kirche wieder der Staatshoheit des paritätischen Staates zu unterwerfen, nachdem die preußische Verfassungsurkunde unter Aufnahme belgischer Verfassungsartikel alle Schranken niedergerissen hatte, war gewiß eine geschichtlich-politische Notwendigkeit. Aber die Art der Ausführung durch die Gesetzgebung der Kultmkampfzeit konnte nur erwachsen auf dem Boden einer Weltfremden Bureaukratie, die von dem inneren Wesen der katholischen Kirche keine Ahnung hat. Indem man in die dogmatischen Grundlagen der katholi­schen Kirchenverfafsung eingriff, erweckte man in den katholischen Untertanen einen Zwiespalt zwischen ihrer Gehorsamspflicht gegen den Staat und ihrer religiösen Gewissenspflicht. Bismarck selbst hat später die Verantwortlichkeit für die Einzelarbeit der Maigesetze abgelehnt und erklärt, durch die Praxis sei ihm der Mißgriff klar geworden. Neben dem Kultusminister Falk war es parlamentarisch in hervorragendem Maße Gneist, der als Nationalliberaler bei dieser Gesetzgebung mitwirkte.

In engster Verbindung mit der Kirche stand die Schule. Hier hatte Gneist schon 1869 literarisch das Wort ergriffen, indem er entgegen der lebendigen Verwaltungspraxis die konfessionelle Schule geradezu für eine pseudoisidonsche Fälschung des preußischen Beamtentums erklärte.

Die hervorragende Betätigung Gneists auf dem Gebiete von Kirche und Schule legten damals sogar den Gedanken nahe, ihn selbst das Kultusministerium