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Die Philosophie der Gegenwart
geben, nein, eine schier unübersehbare Fülle von Literatur ermöglicht es jedem, auf eigene Faust sich Wege zu sichern in dem Labyrinth des modernen Denkens.
Oesterreich zeigt zunächst, unter welchen äußeren Umständen die Neubelebung der Philosophie stattfand. Er weist nach, wie die auf „Wirklichkeit" gerichtete Tendenz unsres staatlichen, sozialen, wirtschaftlichen Lebens, wie ferner die Naturwissenschaften und ihr Einfluß einer Entwicklung philosophischer Systematik entgegenstanden. Gewiß auch jene Tendenzen schufen sich ihre Weltanschauung, besonders unter Ausnutzung des Entwicklungsgedanlens. als „Materialismus" und später „Monismus". Indessen die Philosophie im eigentlichen Sinne ging andre Wege. Sie versuchte es einerseits mit einer Synthese zwischen den realistischen Zeitinstinkten und einer allgemeinen Weltanschauung: indessen der bedeutendste derartige Versuch, das System Wundts, hat doch nicht ganz befriedigt. So beging man einen andern Weg, indem man der Philosophie ein besonderes Gebiet anwies, wo sie sich entfalten konnte, ohne mit den andern Wissenschaften in Konflikt zu kommen. Die Erkenntnistheorie wird das zentrale Gebiet philosophischen Denkens. Aber auch auf diesem engeren Felde bekämpfen sich die Richtungen.
Oesterreich unterscheidet zunächst zwei große Gruppen dieser Erkenntnistheoretiker: die „Wirklichkeitsphilosophen" und die an Kant sich anlehnenden Denker, die er als „Neukantianer und Neukritizisten" zusammenfaßt.
Unter den Wirklichkeitsphilosophen werden wieder vier Richtungen unterschieden: 1. der Positivismus, als dessen Vertreter Laas, Jodl und Dühring aufgeführt werden, 2. der Empiriokritizismus, mit welchem ebenso unschönen wie uncharakteristischen Namen, der sich leider eingebürgert hat und der daher auch von Oesterreich übernommen ist, man die Philosophie von Richard Avenarius, Mach, Petzolds u. a. bezeichnet, 3. die den vorigen Denkern nahestehende Jmmanenzphilosophie Schuppes, und letzthin 4. der idealistische Positivismuö Vaihingers, den man vielleicht bezeichnender noch als „Fiktionismus" charakterisieren würde, eine Richtung, die ihrerseits sich dem auch in Deutschland wirksam gewordenen Pragmatismus der Amerikaner nähert und als „Philosophie des Als-Ob" neuerdings mit Recht das größte Aufsehen gemacht hat.
Neben diesen, meist auf dem Boden der modernen Naturwifsenschaft erwachsenen Richtungen, stehen dann alle jenen, die an Kant anknüpfen oder wenigstens seinen Namen im Munde führen. Denn das Merkwürdige ist: trotz des gleichen Ausgangspunktes entfernen sich auch diese Richtungen soweit voneinander, wie es nur möglich ist, sodaß wir auf dem Boden des Kantianis- mus fast sämtliche Richtungen des philosophischen Denkens überhaupt — vom Positivismus bis zum abstrakten Idealismus wiederfinden. Wie seltsam verschlungen die Wege des modernen Denkens dabei sind, geht ferner wiederum aus der Tatsache hervor, daß auch Positivisten wie Vaihinger sich auf Kant berufen dürfen, und daß andererseits der von Kant ausgehende Simmel (wie übrigens schon vor ihm Nietzsche) in Deutschland den Pragmatismus vertreten