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Der arme Mann im Tockenburg
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Der arme Mann im Tockenburg

ungeschminkten Wahrheit des Naturlebens, das der arme Mann im Toggenburg schilderte und in dem nicht bloß eine Idylle lächelte, sondern auch düster und herb irgendein Akt aus einer Lebenstragödie aufblitzte.Nun in Gottes Namen, nackent bin ich von Mutterleib kommen, nackent werde ich wiedert dort in die Gruft wandern und von allem Weltplunder nichts mitnehmen, als etwa ein altes Leilachen, mich in Charons Nachen vor Wind und Wetter zu schützen. Dann teile immer deine Schätze, alte, für mich verrostete Welt. Meine Schulden kannst du bezahlen oder eintreiben, nach deinem Belieben. Ich werde von oben dem Kinderspiel ruhig zusehen." Was zwischen diesem nackenden Kommen und Gehen liegt, ist ein seltsames Leben eines Träumers, eines Narren, eines sensiblen Herzens, eines himmelhoch Jauchzenden und kleinlaut Verzagenden, eines glühenden Adoranten der Liebe, die ihm zwischen Dornen und Disteln der Schicksale doch auch die Flügeltüren des Paradieses herrlich weit öffnet, kurz eines Menschen, der sich wacker gewehrt, gekämpft, gehaßt, gearbeitet, gedacht, ein bedeutsames Leben auf einem Gipfel behaglichen Glückes führen konnte. Just vor hundert- fünfundsiebzig Jahren ist er geboren am 22. Dezember.Ich sei ein bißchen zu früh auf der Welt erschienen, sagte man mir... Mag sein, daß ich mich schon im Mutterleibe nach Tageslicht gesehnt habe, und dies Nach-dem-Licht-Sehnen geht mir all mein Tag nach! Daneben war ich die erste Kraft meines Vaters, und Dank sei ihm unter der Erde von mir auch dafür gesagtl" Ist das nicht eigen gesagt? Und dazu von einem Salpetersieder? Die elementarsten Geschehnisse kerben die natürlichen Höhepunkte in dieses von uraltehrwürdigem epischen Gefüge belebte Buch: Leben, Lieben, Sterben. Seine Jugend ist ein lyrisches Gedicht, nur die Mechanik der Verse fehlt. Also bloß eine Äußerlichkeit weniger. Übrigens Verse hat er auch auf dem Gewissen. Sie sind so schlecht, wie seine Prosa aus­gezeichnet ist. Der ältere Schweizer fühlt sich im Verspanzer beengt. Es ging Bräker wie Gotthelf, von dem wir erst durch Ferdinand VettersKorrespondenz zwischen Gotthels und Hagenbach" wissen:Sobald ich etwas Versen will, so gleicht mein Sprachvorrat einem See, der zuzeiten abläuft, daß kein Tropfen mehr vorhanden bleibt, und umsonst grüble ich in allen Spalten und Tiefen nach den einfachsten Silben. Setz' ich zur Prosa an, so rauschen die Worte wieder herauf, und ich kann so ungefähr sagen, was ich will." Auch dem Toggenburger quillt so der Born der Rede. Als ein Krösus an Bildern und funkelnden Vergleichen haßt er fanatisch das körperlose Wort. Unter seinem Hochdeutsch rauscht mächtig und stark das heimatliche Idiom und gibt seiner Rede eine heimliche Traulichkeit und robuste Kraft. Irgend eine lauernde Absicht auf den Leser, ja nur ein köderndes Augenblinzeln kennt er nicht. Er beichtet ja um so treuherziger, weil er sich selber als Publikum denkt. Andernfalls wäre seine Schilderung sub rosa mit dem Ännchen nicht so sorsch ausgefalleu.Ha, ha, Uli! Du hast die Kinder­schuh auch verheyt*)," tuscheln ihm damals seine Kameraden zu. Spricht seine Prosa hier nur Honigwörtchen, so schlägt sie bald dramatische Funken, da er in Berlin als Soldat nolens volenL angeworben wird. Sein ruhiger epischer Stil -gerät nun ins Kreuzfeuer militärisch wortkargen, wie Eisenklingen scharfen Dialoges. Der Malefizkerl! Ingeniös fließt ihn: das Bild des soldatischen Berlin unmittelbar

*) ausgetreten.