Maßgebliches und Unmaßgebliches
195
sich darauf, daß der Anblick des Elends Männer, die nicht zu den Hungernden gehören, anregt, auf wirtschaftliche Reformen zu sinnen. Der wirtschaftliche Fortschritt geht gleich jedem andern Fortschritt von genialen Menschen aus, deren Wirken nach und nach die trägen, widerstrebenden Massen ergreift und in Bewegung setzt. Und diese Bewegung bleibt niemals einseitig auf einen einzelnen Zweig der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränkt! wenn auch bald dieser, bald jener Produktionszweig voraneilt, die übrigen kommen mit der Zeit nach. „Aus diesem Gesichtspunkte heraus ist es z. B. nicht zulässig, im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich (in der Zeit der physiokratischen Gegenströmung gegen den Merkantilismus) von einer agrarischen Reaktion zu reden. Man hatte es damals nicht mit irgendeiner wirtschaftlichen Reaktion, sondern mit einem eminenten ökonomischen Fortschritt zn tun. Das Bild jener Jahre war: relativer gewerblicher und händlerischer Stillstand und agrarische Entwicklung. Die relative Stagnation auf jenen Gebieten war indessen kein Zeichen von irgendwelcher Unfähigkeit, sondern nur ein Symptom für eine augenblickliche Entwicklungsunmöglichkeit des Handels und der gewerblichen Produktion, bevor nicht die Landwirtschaft als letztes Glied des WirtschaftstorperS den für Handel und Gewerbe unbedingt notwendigen Schritt nach vorwärts getan hatte." (Womit ohne Zweifel genieint ist, daß die Landwirtschaft mehr Nahrungsmittel liefern und die landwirtschaftliche Bevölkerung kaufkräftiger gemacht werden mußte, ehe Industrie und Handel mehr Menschen beschäftigen und mehr Waren absetzen konnten.) Der von innen heraus, seinen jeweiligen Trägern unbewußt, drängende Fortschritt (der also hier als eine dem Menschengeschlecht eingepflanzte Triebkraft erscheint) bedient sich dreier Mittel. Das erste ist die Anerziehung von Bedürfnissen, eine Funktion, die gewöhnlich der Handel übernimmt. Sie hat zur Voraussetzung einerseits die Herausreißung des Individuums aus der Autarkie der alle Bedürfnisse befriedigenden isolierten Hauswirtschaft und die Herstellung eines Gewebes von Abhängigkeitsverhältnissen, die jeden als Produzenten und Konsumenten mit vielen andern Produzenten und Konsumenten verknüpfen, anderseits die Tätigkeit von Individuen, die den übrigen wirtschaftlich überlegen sind, d. h. mit geringerem Kräfteaufwand größere wirtschaftliche Erfolge erzielen. Das zweite Mittel ist die Organisation (Zünfte, Handelsgesellschaften usw.), die mehr leistet als der einzelne. Das dritte ist die Verschiebung der Bevölkerung, die, mag es sich um Einwanderung in Gebiete höherer Kultur (z. B. der Bauern in die Stadt) oder niederer Kultur (Kolonisation) handeln, jedenfalls Menschen in den Strom des Fortschritts hineinreißt, die bis dahin nicht von ihm ergriffen waren. Seitdem die Nationalwirtschaften vollendet sind, hat die zu weiterem Fortschritt treibende Konkurrenz zwischen ihnen u. a. die Wirkung, daß sie zwischen Absperrung durch Schutzzölle und Freihandel hin und her pendeln; diesem neigen sie bei ungefährem Gleichgewicht ihrer wirtschaftlichen Kräfte zu; jede Überlegenheit eines Staates zwingt den andern zur Errichtung von Schutzwällen, hinter denen er sich zu stärken strebt, bis er den Konkurrenten eingeholt hat. Trotz heftigem Aufflammen des Nationalismus in unsern Tagen kündigt sich die allmähliche Auflösung der Nationalwirtschaft und der Übergang zu einer höheren Stufe an. (Grade diese Aussicht ist es, was die nationalen Kämpfe auch im wirtschaftlichen Gebiete so leidenschaftlich macht.) Die Mächte, die der drohenden Auflösung den kräftigsten Widerstand entgegensetzen, sind die Landwirtschaft und der Staat. „So scheint es, als ob eine ferne Zukunft doch die Verwirklichung von Adain Smiths Ideal — eineS freien Wirtschaftsverkehrs auch zwischen den einzelnen Nationen — herbeiführen soll." Unserm Handel wirft der Verfasser planlose und wegen der durch den Export geschaffenen ungeheuer langen Verteidigungslinie bedenkliche Ausdehnung vor; auf