Ägypten und die Kapitulationen
twa ein Jahr ist verflossen, seitdem Lord Cromer sein Amt als Oonsul und Leiter äs taoto des ägyptischen Staatswesens
niedergelegt hat. Was hier in den vierundzwanzig Jahren seiner Amtsdauer unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen geschaffen worden ist, wird ihm einen dauernden Platz unter den großen Staatsmännern aller Zeiten sichern. Das moderne Ägypten ist seine Schöpfung. An die Stelle der zerrütteten Finanzen der achtziger Jahre und der sprichwörtlichen Mißwirtschaft ist ein wohlgeordnetes, zahlungsfähiges Staatswesen getreten, das sich sicher auf dem Wege des Fortschritts und des Wohlstandes befindet, an dessen weitrer gesunden Entwicklung alle Nationen ein Interesse haben, vornehmlich die mit großem Handel.
Nur eine Voraussetzung ist hierzu unerläßlich, nämlich die, daß England für absehbare Zeit die (oberste) Leitung dieses Staates in Händen behält, und daß die Haltung der Großmächte der Frage der englischen Herrschaft in Ägypten gegenüber verständnisvoll bleibt. Ohne eine wohlwollende Haltung der Signatarmächte sind die Aufgaben der Zukunft dort nicht zu lösen. In seinem letzten Jahresbericht, der in vielen Punkten als sein politisches Testament anzusehn ist, hatte nun Lord Cromer in erster Linie die Notwendigkeit einer zeitgemäßen Abänderung der Kapitulationen nachgewiesen und Vorschläge in dieser Beziehung gemacht. Es ist bezeichnend, daß sein Nachfolger, Sir Edwin Gorst, in seinem ersten Bericht ebenfalls die Forderung auf Abänderung der Kapitulationen an die erste Stelle setzt.
In den Jahren, die der britischen Okkupation folgten, wurde die Reformpolitik durch die Verhältnisse diktiert. Sie konnte in der Hauptsache nur darin bestehn, die Bürde, die infolge der Mißwirtschaft auf der Bevölkerung lastete, zu erleichtern und die bestehenden Hilfsquellen des Landes nach Möglichkeit zu erschließen.
Grenzboten III 1908 l