vom Strafmaß
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Der Gerichtshof zieht sich dann zur Beratung zurück, und was in diesen Beratungen manchmal zutage gefördert wird, grenzt bisweilen ans Märchenhafte. Es ist wahrlich gut, daß sie mit dem Schleier des strengsten Amtsgeheimnisses umgeben sind. Aber man verstehe mich auch nicht falsch! In dieser Zeit lebhafter, nicht selten wohlbegründeter, aber oft auch jeder Sachkenntnis entbehrender und darum ungerechter Angriffe auf unsre Rechtspflege ist es leider nicht überflüssig, hervorzuheben, daß jeder, der einem deutschen Nichter bei irgend einer Entscheidung bewußt eigennützige oder parteiische Beweggründe unterlegte, einem schweren und bedauerlichen Irrtum unterläge. Kein Zweifel, daß sowohl Strebertum wie Faulheit, sowohl die Sucht aufzufallen als die Sucht schnell fertig zu werden, also die verschiedensten Erscheinungsformen des Egoismus an sehr vielen Akten der Rechtspflege ihr menschlich Teil haben; aber daß sie bei einer einzigen der Millionen richterlicher Entscheidungen, die alljährlich gefüllt werden, als ausschlaggebend in das Bewußtsein des einzelnen Richters träten, wage ich ganz entschieden zu bestreiten. Vieltausendmal wird das Recht gebeugt; unter tausendmal wohl ueunhundertmal unbewußt aus Unwissenheit, Unklarheit, Versehen, Nachlässigkeit, Flüchtigkeit, Denkfaulheit, und hundertmal bewußt, einem Prinzip, einer Idee, einem „höhern Zweck" zuliebe, aber nicht ein einzigesmal aus bewußtem Egoismus, aus klar erkannter, beabsichtigter Parteilichkeit. Das gilt selbstverständlich auch von den Entscheidungen über das Strafmaß. Und dennoch ist es ein Glück, daß die Beratungen darüber jedem, außer den mitwirkenden Richtern nnd den zn Ausbildungszwecken dem Gerichte zugewiesenen angehenden Juristeu, verschlossen und mit dem Schleier des Amtsgeheimnisses verdeckt bleiben, denn hier werden bisweilen die verschiedensten und seltsamsten Erwägungen laut, die für eine bestimmte Strafart oder ein bestimmtes Strafmaß den Ausschlag geben sollen. Der eine will den jungen Angeklagten nicht ins Zuchthaus schicken, weil er dadurch dem Heeresdienst entzogen würde, „und das will der Kerl ja bloß!" Ein andrer will eine möglichst lange Strafe verhängen, weil der Schuldige ja doch sofort nach seiner Entlassung wieder rückfällig werden wird, und die Mitmenschen deshalb möglichst lange vor seinen Angriffen anf ihr Allerheiligstes, nämlich ihr Portemonnaie, geschützt werden müssen. Ein dritter würde nur ein paar Monate Gefängnis geben wollen, aber er möchte doch nicht gar so weit hinter dem Strafmaß des Staatsnnwalts zurückbleiben, der zwei Jahre beantragt hat, und er stimmt daher für ein und ein viertel Jahr. Jener ist überzeugt, daß es dem Angeklagten nur darum zu tun war, für die kalte Winterzeit ein Obdach zn erhalten, und er stimmt deshalb bloß für zwei Monate Gefängnis, „damit der Schuft Mitte Januar wieder herauskommt, wenn es gerade am schärfsten friert"; oder er stimmt für elf Monate, damit der Kerl auch die schöne Jahreszeit noch hinter den eisernen Stäben verleben kann. Dieser ist der Überzeugung, daß der Angeklagte außer den beiden eingestandnen Diebstählen noch die drei nudern begangen hat, wegen deren er zwar angeklagt ist und nur aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden muß, und er greift deshalb das Strafmaß für die beiden eingestandnen Diebstähle ungewöhnlich hoch.