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Der Marquis von Marigny
legte Hut und Degen ab und warf sich auf das Kanapee. So verharrte er eine Zeit laug, deu Blick durch das geöffnete Fenster auf die Türme von St. Florin gerichtet, die schnelle Schwalben, sich des Sommerabends freuend, bald einzeln, bald in kleineu Schwärmen mit schrillem Schrei umkreisten. Die Tochter würde wohl noch im Garten sein, dachte er, vielleicht auch schon auf dem Heimwege. Marigny lanschte, ob ihr Schritt nicht auf der Treppe zu hören sei. Nach dem Lärm des Tages schien die Stadt wie in vorzeitigen Schlummer versunken zu sein, obgleich die Sonne noch nicht einmal untergegaugen war. Jetzt ließ sich die Glocke der Jesnitenkirche vernehmen, nicht die kleine, dünnstimmige, die die Vesperstunde verkündete, sondern die größere, die für gewöhnlich zur Messe rief, sonst aber nur bei besondern Anlässen geläutet wurde. Wie weihevoll ihr Klang den alten Herrn berührte, den die mannigfachen, sich widerstreitenden Gefühle dieses Tages weich und mild gestimmt hatten! Ach, wenn er geahnt hätte, was dieses Geläut, dem er so andächtig lauschte, bedeutete! Er würde zu der bittern Erkenntnis gekommen sein, daß das Metall, das dort oben mit Sirenensttmme sang uud in der klaren Abendluft schwirrte und zitterte, noch genau so hart uud mitleidlos war wie vor hundertundsechzig Jahren, als es von den Wällen Magdeburgs hinab manchen braven Mnnn zn einem Gange rief, von dem noch keiner zurückkehrte!
Der Marquis begauu unruhig zu werden. Um diese Zeit pflegte Marguerite sonst wieder zuhause zu sein. Er erhob sich, lauschte auf dem Vvrsnal uud wanderte, als im Hause inimer noch alles still blieb, in bänglicher Erwartung ans uud nieder. Sollte er sich aufmachen uud ihr eutgegengehn? Er griff schon nach Hnt uud Degen. Da fiel ihm ein, daß bei der vorgeschritten Dämmerung das Stadttor schon geschlossen sein müsse. Vielleicht war das Mädchen auch gar uicht im Garte» gewesen, sondern hatte, wie so oft in der letzten Zeit, die Baronin von Gramont besucht.
Was blieb ihm also übrig, als ihre Rückkunft geduldig abzuwarteu? Er wollte Licht cmzündeu und begab sich in den Winkel hinter dem mächtigen Kleiderschrank, wo Stein, Stahl und Schwmuindose auf einem Wandbrett lagen. Die tastende Hand fand diese Dinge, aber sie fand auch noch etwas andres, das sonst nicht an dieser Stelle lag: ein zusnmmengefaltenes Papier — einen Brief. Was hatte das zu bedeuten?
Eine Ahnung sagte ihm plötzlich, daß etwas außerordentliches geschehn sein müsse. Zwischen Marguerites Abwesenheit und diesem Briefe mußte ein Zusammenhang bestehn.
Er legte das Papier auf den Tisch und begann Feuer zu schlage». Aber seiue vor Aufregung zitternden Finger mühten sich vergebens, Stein nnd Schwamm so zu halteu, daß der sprühende Fuuke Nahrung fand, nnd schließlich sprang ihm auch noch der Stein ans der Hand.
Da warf er Stahl uud Schwamm weg, eilte ans Fenster, riß den Brief auf und las die Worte:
Meiu Vater! Es schmerzt mich, Ihnen Leid bereiten zu müsse». Aber Sie habe» es selbst nicht anders gewollt. Wenn Sie diese Zeilen lesen werden, bin ich Henris Weib. Abbö Boulig»e»x wird die Gefälligkeit haben, uns heute Nachmittag zu trauen. Ich versage mir jedes Wort der Rechtfertigung und vertraue daranf, daß einst auch in Ihnen, mein Vater, die väterliche Liebe über den gekränkten Ehrgeiz den Sieg davontragen wird. Gebe der Himmel, daß es bald geschehn möge! Marguerite.
Wer etwa erwartet hätte, der Marquis würde »ach der Lektüre dieses Briefes Wie vom Schlage getroste» zusammenbrechen, der wäre enttäuscht worden. Der alte Herr brach auch uicht in Tränen ans. Ein langgezogner Pfiff durch die Zähue — das war anscheinend die einzige wahrnehmbare Wirkung, die das Blatt hervorbrachte. Marguerite hatte Recht mit ihrer Voraussetzung, ihr Schritt würde