Änderungen des Reichstagswahlrechts
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Gleichgewicht bedrohende Strömung kehren, die Unterschiede, die sie sonst trennen, zurückstellen und vereinigt doch mächtiger bleiben." Diese Sätze ans der schon vorhin angeführten Schrift geben, dünkt uns, einen Teil der Gründe richtig wieder, die dem Fürsten Vismcirck vorgeschwebt haben mögen. Hinzuzusetzen ist jedenfalls, daß jede Wahl eiu Stiiumungsmesser ist, uud daß Wahlen, au deuen alle beteiligt sind, mit gleichem Rechte uud unmittelbar, keinesfalls entgegengehalten werden kaun, sie seien bloß partielle und gemachte Stimmnngsmesser. Sie mögen ja sehr schlecht ausfallen, deuu Stimmungen irren leicht und sind etwas ganz andres als eiu wohlnbgewognes Urteil, aber als Stinunuugsmaßstab ist das Neichstagswahlrccht unanfechtbar. Dieser Wert läßt sich ihm uicht absprechen, und kein Staatsmann wird dieses Gewicht von der Wage, worauf er seine Entschlüsse prüft, weglassen, wenn auch nnter Umständen andre, entgegengesetzte Gründe auf die Wage uoch stärker drücke» werden und müssen.
Mit seinen Vorzügen und seinen Mängeln ist das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht eine Institution, die im Volke kräftige und tiefe Wurzeln gefaßt hat. Die Zahl der Deutschen, die sich — mit Recht oder Unrecht — als Enterbte fühlen, ist sehr groß und wächst fortwährend, auch außerhalb der mehr oder weniger „bewußten" sozialdeniokratischen Genossenschaft. Für sie ist das Wahlrecht die einzige Ausnahme, das einzige Gut, und sie hängen daran mit leidenschaftlicher Liebe. Sie würden seine Aufhebung als einen Angriff ans ihr Heiligstes ansehen, als ein Attentat ans ihr Teuerstes. Diese Ausdrücke sind nicht zu kraß, denn wir sind sehr diesseitig geworden, uud das Gefühl, das jene Volksschichten gegen die Aufhebung haben, ist nicht weniger stark als das unsrige gegen Aufruhr oder Umstoßuug der jetzigen Gesellschaftsordnung. Uns ist dieses revolutionär, ihnen jenes. Diese Gefühle anders als im Fall äußerster Notwendigkeit zu verletze« sollten wir nns darum hüten. In seinem jetzigen Umfange ist das Reichstagswahlrecht zu achten. Die Provokationen berechtigen und verpflichten uns, die Heimlichkeit zu beseitigen, aber wir sind nicht befugt und würden sowohl unklug als gewisseulvs handeln, mit einer Provokation zur Revvlutiou zu antworten. Und wenu manche Leute so gern von Verwirken sprechen, so ist dies erstens eiu strafrechtlicher, lein politischer Begriff, zweitens setzt seine Anwendung voraus, daß die Strafe nicht größer sei als das Vergeh», und drittens würde» eher wir lim unsrer Schwächlichkeit Wille» die Abwehr verwirkt haben als jene Wege» ihrer Hercms- fordernng den ganze» Kainpfpreis. x
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