22 Aipling und Tolstoi
der Gewalt auch in der rohcsten Körperkraft, hier die Verdammung der Gewalt, auch in der Kraft des Staats. Die Gewalt, verherrlicht von einem Sänger des zivilisiertesten Volks Europas, und verdammt von dem Sänger des am wenigsten zivilisierten unter den großen Völkern dieses Erdteils. Dort ein Engländer, der in den Greueln unmenschlicher Kämpfe schwelgt, hier ein Russe, der mit religiösem Ernst seine Stimme gegen die Greuel einer rohen Volksmoral und mehr noch gegen jeglichen Krieg, jegliche Kriegsmacht der Völker oder der Staaten erhebt.
Wer „Die Macht der Finsternis" gesehen oder gelesen hat, wird sich sagen: Das ist volle und nackte Wahrheit, das ist ganz Natnr, vom Dichter erlebte und empfundne Natur, so naturalistisch, wie unsre heutigen Nerven es sich nur wünschen können. Erstaunlich ist für uns, daß ein Mann von europäischer Bilduug, ein philosophischer Denker, ein Mann aus den obersten sozialen Reihen so durchaus in den Geist, das Fühlen, die Form und den Inhalt des Lebens einer Menschenklasse aufgehn kann, die so unendlich weit von der Höhe seines Geistes, seiner Bildung, seiner Moral entfernt scheint. In diese Tiefen des rohen Volksleben sind nur wenige vor ihm und nur auf Augenblicke hinabgestiegen, ohne über kurz oder lang aus ihrer Rolle zu fallen. In keiner der Figuren dieses Stücks und keinen Augenblick verrät sich der Dichter als der über diesem Volksleben stehende kritische Geist; kein Gedanke, kein Wort fällt heraus aus der Sphäre dieser kulturlosen, aber in ihrer natürlichen Nackheit naiv auftretenden Wilden. Wir schaudern zurück vor den gehäuftem Verbrechen, vor Gattenmord und Kindermvrd, vor Lüge und Habsucht, vor elender Schwäche und teuflischer Verführung; aber es ist mehr der Schauder, wie wenn wir Bestien einander zerfleischen sehen, als der Abscheu vor dem Verbrechen, das aus der sittlichen Verderbtheit des seiner That bewußten Schurken fließt. Dieselbe That, vollführt vom Wilden und vom Schurken, hat für uns einen sehr verschicdnen moralischen Wert und wirkt deshalb verschieden ans unser Empfinden. In der Atmosphäre dieser russischen Bauern liegt ein moralischer Nebel ausgebreitet, der uus die Verantwortlichkeit des Einzelnen weniger deutlich macht. In diesem Bauernhause wissen alle, bis auf das zehnjährige Kind hinab, um die Mordplüne und Morde, die vor sich gehn, aber der Abscheu treibt nirgend zum thätigen Widerstande, man duldet, man erduldet das Übel wie einen Naturvorgnng, und nur im Kinde bricht die Teilnahme, das Mitleid unwillkürlich mit sittlicher Thatkraft hervor. Sogar der Greis Mm, der wie der Vertreter einer vergangne,? bessern Generation und Zeit erscheint, findet nicht den Willen zur Gegenwehr in sich, auch in ihm ist die persönliche Moral nicht stark genug, die Unmoral der Umgebung, den Nebel, der auf dem ganzen Dorfleben des Bauern lastet, zu durchbrechen. Wo sich das Gewissen dennoch regt, da hilft der Branntwein es wieder in den Schlupfwinkel zurückdrängen, in den Not, Furcht und völlige geistige Öde es eingeschlossen haben. Dieses russische Dorf gleicht einem Verließ, in dessen finstern Mauern alles fault, lichtlos, luftlos, blutlos, kraftlos. Und doch lebt auch in diesen Tiefen