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Zu der Frage des Wahlrechts
Indem er aus dem Nrsemil der Gegner eine Waffe herauszog, die in ihrer Hand für das, was erreicht werden mußte, sehr gefährlich gewesen wäre, war er sich wohl bewußt, wie schwer die Waffe in seiner eignen Hand wog. Gerade auch um deswillen griff er darnach, aber nichts hat ihm dabei ferner gelegen als Leichtfertigkeit, als eiue Stimmung, die sich etwa so bezeichnen ließe, daß er den Gegnern ein Schnippchen zu schlagen beabsichtigt Hütte. Es wird im Gegenteil schon bei den: ersten Ergreifen des Gedankens sehr ernst in seinem Innern ausgesehen haben, ebenso ernst wie es in den Verhandlungen mit seinem königlichen Herrn hergegangen ist, aus denen der Minister zuletzt die Ermächtigung schöpfte, den kühnen und genialen Wnrf wirklich zu thun. Beiden ist der Entschluß gleich schwer geworden, und daß der Herr das von seinem ersten Diener wußte, hat sicher seine Zustimmung, die entscheidende, nicht weniger beeinflußt als das Vertrauen zu der überragenden Geisteskraft des Mannes, der seinem Herrscherwillen untergeordnet war. Nicht nur der Erfolg, den der Entschluß beförderte, sondern auch die Selbstüberwindung, die er beide Männer gekostet hat, mahnt uns daran, auch unsrerseits mit der unmittelbaren Frucht des Entschlusses, dem Neichstagswahlrecht, nicht leichtfertig zu schalten.
Die Einseitigkeit des Reichstagswahlrechts, die darin besteht, daß die Stimmen nur gezählt werden, nicht nach dem geistigen, wirtschaftlichen und sozialen Wert ihrer Träger abgestuft sind, wird für das Reich als Ganzes bis zu einem gewisfen Grade durch seine räumliche Ausdehnung ausgeglichen. Die Zufälle und Überraschungen nämlich, denen dieses Wahlrecht noch mehr als andre ausgesetzt ist, können sich nicht auf vereinzelte Wahlkreise beschränken, sondern wiederholen sich in mehreren, aber natürlich mit abweichendem Erfolge, sodaß, was in dem einen Kreise verloren wird, in einein andern gewonnen, uud das Gesamtergebnis nicht leicht getrübt wird. Einer Trübung widersetzt sich die Größe des Reichsgebiets auch dauu, weun eine noch so mächtige Geistesströmung auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt bleibt, denn bei den andern Volksschichten wird sich dann in der Regel starker Widerstand zeigen, und zwar so, daß sie sich gemeinschaftlich gegen die das bisherige Gleichgewicht bedrohende Strömung kehren, die Unterschiede, die sie sonst trennen, zurückstellen und vereinigt doch mächtiger bleiben. Bei verschiednen Gelegenheiten, wo das Neichstagswahlrecht angegriffen wurde, hat Fürst Bismarck auf diese ausgleichenden Umstände hingewiesen. Sie haben auch lange Zeit so gewirkt. Aber seit mehreren Jahren scheint ihre Kraft zu versagen. Die Parteien, die durch das Gefühl des gemeinschaftlichen Gegensatzes und durch Kompromisse über gemeinschaftliche Ziele zu einem sich auch auf die Wahlen erstreckenden Kartell vereinigt worden waren, sind davon abgefallen und finden sich immer seltener zusammen; das, was sie trennt, drängt das zurück, worin sie gegen die gemeinschaftlichen Gegner einig sind oder doch sein sollten und könnten, und für die Wahlen fehlt es an einem