Maßgebliches und Unmaßgebliches
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schiedenheiten der natürlichen Organisation übersieht — die Masse sei von Geburt in Erkenntnis, Moral und Geschmack immer nur Mittelgut —, und daß er auch mit seiner Forderung, die Religion müßte ihren Trausceudenzanspruch fahren lassen, die Wirklichkeit verkenne: das Unendliche sei eine Erfahrungsthatsache. Mau liest die vier Aufsätze mit Vergnügen und mit Nutzen. Bei Eucken empfindet man das Gegenteil von Vergnügen, uud der Nutzen, den sein Buch gewährt, ist sehr mäßig. Das „ungeheure" Problem, das er angreift, ist freilich das eigentliche Problem der Philosophie auf ihrer heutigen Stufe: wie kann ein vom Leibe unabhängiges geistiges Leben erreicht werden, da doch der ganze Inhalt unsers gegenwärtigen geistigen Lebens aus der Leiblichkeit geschöpft oder weuigsteus durch leibliche Orgaue vermittelt wird, uud wir bei jedem Versuch, uns von der Leiblichkeit abzulösen, ins Leere fallen? Man muß es dem Verfasser lassen, daß er das Problem mit einem großeu Aufwand von Scharssinn von allen Seiten, in allen seinen Teilen betrachtet, die Lösnngsversuche der Philosophen, der Religionen, der Kulturstufen nnfs geistreichste kritisirt; aber das alles geschieht in einer so abstrakten, künstlich gewnndnen Sprache, die augebliche Lösung erfolgt in so allgemeinen, schwer verständlichen Sätzen, und nach schon vvllzogner „Rettung" werden wir aufs neue zwischen den beiden Gegensätzen: dem vergänglichen, nichtigen Sinueulebeu und der öden, leereu Geistigkeit so unbarmherzig hin uud her gezerrt, daß wir am Schlüsse rufen: Gott sei Dauk — nicht für die gewonnene Aufklärung, sondern daß die Qual ein Ende hat. Was ist mit Sätzen wie dem folgenden gewonnen: „Sich über die Welt Hinansheben und ihr gegenüber eine Unabhängigkeit behaupten, ohne damit ins Leere zu fallen, das kann das Individuum mir als geistersüllte Persönlichkeit, nur iu festem Zusammenhange mit einer unsichtbaren Welt, nur in Teilnahme an den Kräften und Gütern einer solchen Welt?" Indem Eucleu das wahre und echte geistige Leben als ein neues Leben charakterisirt, das durch eine entscheidende freie That errungen werden müsse, als etwas wunderbares, weder iu Begriffe zu fassendes, noch mit Worten zu beschreibendes, den Übergang dazu aber als Seelenrettung, nnd indem er Unglück nnd Tod als gute Genien preist, die znr Rettung behilflich seien, legt er die Vermutung nahe, daß er uugefähr dasselbe mciue, was die Kirche Wiedergeburt und Bekehrung uud der Methodist Erweckung nennt. Wir glauben mm zwar selbst, daß es etwas dergleichen giebt, verkenne» aber nicht, wie schwierig es sei, solche» vereinzelten Vorgängen eine Bedeutung für die Menschheit im Ganzen abzugewinnen. Denn sie bleiben persönliche Erfahrung dessen, der sie erlebt hat, und können nicht einmal beschrieben, geschweige denn auf andre übertragen werden, man müßte denn die Methode der Heilsarmee, die Gebnrtswehen durch Pauken- und Trompeteu- sthnll herbeizuführen, ernsthaft uchmcu. Aber das neue Leben soll nach Euckeu nicht in mystischem Träumen uud Wcbcu der erlöste« Seele beschlossen bleiben, ändern, wie es ein Erzeugnis freier That ist, so auch durch weitere Thaten iu der Welt wirksam werden, uud da entsteht denn die weitere Schwierigkeit, die im ^mife der Jahrhunderte immer wieder von neuem zur Weltflucht geführt hat, daß außer der Krankenpflege kanm eine weltliche Thätigkeit giebt, die das neue ^cben nicht täglich in Gefahr brächte oder geradezu verdürbe. Auch als „Weseus- bildung" bezeichnet Euckeu das Aufsteigen zum neuen Leben, nnd ein Shstem der Wesensbildung nennt er seine Weltansicht. Wenn dieses Wort einen Sinn haben so kann damit mir dasselbe gemeint sein, was Steffeuseu meint <siehe die vor- lährigen Grcuzbvteu, zweites Vierteljahr, S. 199), wenn er lehrt, die Menschen- seele sei nicht von Geburt aus etwas Wesenhaftes, sondern an sich nur Erscheinung;