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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ratsstube des europäischen Areopags die Frage nach der Lebensfähigkeit des türkischen Staates aufgeworfen hat.

Nichts kann thörichter sein als die krankhafte Friedensliebe, die die Blätter aller Parteien zur Schau tragen, uud ihre immerwährenden Beteuerungen, daß Deutschland schlechterdings kein Interesse an irgend etwas habe, was jenseits der Grenze» des deutscheu Reichs liegt. Können doch unsre innern Spannungen, die täglich unerträglicher werden, schlechterdings auf keine cmdre Weise gelöst werden als durch Ableitung nach außen. Welche Ströme von Unmut und Unzufriedenheit haben sich auf deu Handwcrkerversammluugen ergossen, die in den letzten Wochen über die Gewerbenovelle beraten haben, uud welchen Unwillen uud Haß haben die Ergüsse bei den Gegnern der Zünftler zur Rechten wie zur Linken entflammt! Den Kern der heutigen Handwerkerfrage hat ans dem südwestdeutscheu Handwerker­tage der Münchner Buchbiudermeister Nagler mit den Worten enthüllt:Es handelt sich weniger darum, dafür zu sorgen, daß einige tüchtige Meister sich zu Fabrikanten aufschwingen, wie dies wohl jetzt der Fall ist, als darum, daß der Durchschnitt der Handwerker sein Brot findet." Das bedeutet aber die Rückkehr zu deu frühmittelalterlichen Grundsätzen uud eiue Kriegserklärung an die Führer und Vertreter des modernen Wirtschaftslebens, die allesamt, mit der Naturwissen­schaft des Jahrhunderts uud mit den Schriften des Hcrru Ammvu ausgerüstet, be­haupten, es sei uicht allein das Recht, sondern die Pflicht der Befähigten, nach Reichtum zu streben; eben in dem Ringen um Reichtum uud in dem Siege der Be­fähigten vollziehe sich die Auslese des Bessern, die Nassenveredlung, der Fortschritt der Menschheit; die arm blieben, bewiesen eben dadnrch, daß sie Dummköpfe oder Schwachköpfe, Kurzschädel von kleiner Gehirnmasse seien und in die untere Schicht, n> der sie sich vergebens abmühen, gehörten als Fußschemel uud Werkzeuge der gehirnreichen Langschädel, und das Hnuptorgau dieser edleu Laugschädel, die Post, hat denn auch schon die Herren vom Klcistertopf und von der Hobelbank mit der Mahnung: bei ihrer geringen Bedeutung fürs Staatswcsen zieme ihnen die trotzige Sprache uicht, die sie führten, in die gebührenden Schranken zurück­gewiesen. In Breslau andrerseits hcibeu die Meister dort waren es ausschlich- lich Bäcker, die sonst selbst über Ausbeutung zu klagen pflegen, sich im Kampfe gegen die Bäckereiverordnuug des Bundesrats als so übermütige Ausbeuter geberdet ^ still, Sie Pumpernickelbäcker! wurde einer angeschrieen, der für die Sonntagsruhe einzutreten wagte, daß sich die konservativen uud die Zeutrumsorgane genötigt sehen, ihren ungeberdigcn Schützlingen die strengste Mißbilligung auszusprechen, und daß in Versammlungen von Berliner Bäckergesellen die verzweifluugsvolle Wut gegeu die Meister mit elementarer Gewalt hervorgebrochen ist.

Die Spannung zwischen Industrie und Landwirtschaft oder vielmehr Agrarier- tnm sodann ist eben daran, die nationalliberale Partei zu sprengen, die nicht über so starke Neifeu wie die Böttcherei des Zentrums verfügt. Bis vor kurzem habe» einige Wortführer der Partei den Schein zn erwecken verstanden, als ob die Nationalzeitung mit ihrem Kampf gegen das Agraricrtum der Partei nur einige Berliner Pflastertreter hinter sich hätte; nnn aber erklären die Berliner Politischen Nachrichten, die niemand in dem Verdacht liberaler Gesinnung haben kann: die Hal­tung der Rheiuisch-Westfälischen Zeitung entspreche nicht den Ansichten der rheinischen Großindustriellen; diese konnten unmöglich die agrarische Agitation begünstigen, da die Agrarier die Großindustrie uud deren Lebensnerv, das Großkapital, beinahe noch leidenschaftlicher bekämpften als die Sozialdemokraten. In der That tritt auch hinter diesen Kämpfen der Groß- uud Kleiukapitalisteu unter sich ihr ge- Grenzboten III 139K M