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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Hamburger Nachrichten, die Norddeutsche Allgemeine und die Schlesische Zeitung seit Wochen aus Leibeskräften daran arbeiten, die Konservativen zur Abschüttelung Stöckers zu bewegen, wird sich niemand wundern; aber wie kommt es, daß sich diese nicht dazu entschließen können, obwohl sie dieJungen" und den am 15. De­zember in Lieguitz unter Stöckers Mitwirkuug gegrüudeteu christlich-sozialen Verein für Schlesien in die Acht und Aberacht gethan haben? Die Verhandlungen über die Angelegenheit werden ja geheim gehalten, aber man kaun sich ungefähr denken, was die Herren zurückhält. Die evangelische Geistlichkeit ist für die Wahlen nicht zu entbehren, und der würde es nach der Ausstoßung Stöckers, des Baters der Christlich-Sozialeu, ungemein schwer fallen, der konservativen Partei noch weiter­hin Wahldienste zu leisten. Denn das Neue Testament ist heute keiu ganz unbe­kanntes Buch mehr, es wird weit mehr gelesen als vor dreißig Jahren, und eine evangelische Geistlichkeit, die sich auf den schriftwidrigen Standpunkt stellen wollte, den ihr der Oberkirchenrat anweist, d. h. die für die Reichen gegen die Armen Partei nehmen wollte, würde sich unmöglich machen. Daher die große Verlegen­heit der konservativen Partei.

Noch eine Bemerkung. Ein mittelparteiliches Blatt stellte dieser Tage die segensreiche Wirksamkeit des Freiherrn von Stnmm der Agitativnsthätigkeit der Jungen" gegenüber und schloß mit dem Satze:Wenn wir viele Stumms unter den Arbeitgebern hätten, dann würde die sozialdemokratische Hetzerei viel erheb­lichern Schwierigkeiten begegnen als jetzt; gäbe es aber keine Stumms, souderu nur Ncmmanus, danu stände die Revolution vor der Thür." Die zweite Hälfte des Satzes wollen wir dahingestellt sein lassen; die erste jedoch ist unzweifelhaft richtig, und man kann fortfahren: hätten es alle Arbeiter materiell so gut, wie die des Frciherrn von Stumm, und stünden sie auf einem Bildungsgrade, der sie die Bevormundung, die ihnen auserlegt wird, nicht empfinden ließe, und wäre ihnen nicht durch die Verfassung das Vollbürgerrecht verliehen worden, so würde es gar keine Sozinldemokraten geben. Der Fehler ist nur, daß es eben nicht lauter Stumms geben kann. Wir zweifeln nicht daran, daß der Freiherr das, was er seineu Ar­beitern Gutes erweist, aus Menschenfreundlichkeit thut, aber er würde es auch dann thun, wenn er gar nicht menschenfreundlich, sondern bloß intelligent wäre. Die Eisenindustrie, darauf habeu wir in einem Abriß der Geschichte der englischen Arbeit nachdrücklich hingewiesen, erfordert einen Stamm intelligenter, körperlich kräftiger, gut geschulter und zuverlässiger Arbeiter; damit ist die Notwendigkeit ge­geben, ihnen gute Arbeitsbedingungen zu gewähren. Es giebt aber, und das gehört zu den Eigentümlichkeiten des modernen Wirtschaftslebens, eine Menge Industrien, die mit körperlich schwachen, mit kranken, mit wenig intelligenten, mit stets wechselnden Arbeitern, ja mit Frauen und Kindern betrieben werden können haben wir es doch schon zu eiuem sechsjährigen Unfallrentner gebracht!, und es giebt taufende von Unternehmern, die bei der heutigen Konkurrenz nicht bestehe» könnten, wenn sie ihren Arbeitern mehr als das zur kümmerlichen Fristuug des Lebens unbedingt notwendige gewähren wollten, es giebt ferner gesuudheits- schcidliche, lebensgefährliche und höchst widerwärtige Arbeiten, nnd es giebt Arbeiter, die nicht einmal solche Arbeit bekommen. Es ist also unmöglich, daß es lauter Stumms gebe, uud eben darin besteht die soziale Frage. Jedermann würde den Freiherrn preisen, niemand ihn angreifen, wenn er, anstatt ganz uubcrechtigterweise die Lage seiner Arbeiter als typisch hinzustellen und daraus politische Folge­rungen zu ziehen, sich auf die wohlthätige Wirksamkeit in seinemKönigreich" be­schränkte.