Beitrag 
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Seite
296
Einzelbild herunterladen
 

296

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Kronawettcr, Pernerstorffer und Genossen dieser Dinge wegen an den Minister­präsidenten eine Interpellation gerichtet, die heute, am 5. November, noch der Be­antwortung harrt. Die Wahl Luegers zum Bürgermeister von Wien vervollständigt das Bild der Lage in Österreich.

In Frankreich hat die schmutzige Südbahnangelegenheit das Ministerium ge­stürzt, ein Beweis dafür, daß sich die leitenden Kreise des Landes bei aller Kor­ruption einen im Vergleich mit Italien beträchtlichen Grad von Anstands- uud Schamgefühl bewahrt haben.

Von der sechsten Großmacht. Der Wiener Liberalismus erlebt bittere Tage. Zuerst erlitt er eine furchtbare Niederlage bei den Wahlen für den neuen Gemeinderat (17. September ff.), dann kam ein neuer Ackerbanminister, der sich erkühnte, der Spekulation mit Bodenfrüchten seinen Handschuh hinzuwerfen, nnd nun erklärt gar der Präsident des Ministeriums, dieses wolle sich nicht von dem Parlament führen lassen, sondern selbst führen. Den heiligsten Besitztümern des Wiener Liberalismus, der Judeuherrschnft, der Börse, dem Getreidewucher droht Gefahr Wien uud mit ihm ganz Österreichversinkt im Schlamme, wird der Welt zum Gespött. Wehe!"

Niemand, der die sogenannten führenden Organe des Wiener Liberalismus im Laufe der letzten Jahre mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hatte, konnte dnrch die Auflehnung des dortigen Bürgertums gegen die herrschende Partei überrascht werde», weun auch nur wenige einen solchen Zusammenbruch vorausgesehen haben werden. Nur die Hauptschuldigen, eben jene Zeitungen, scheinen keine Ahnuug von dem gehabt zu haben, was sich vorbereitete, denn sie hatten in den ersten Tagen nach dem Wahlsiege gänzlich den Kopf verloren. Man ist von ihnen Klage» zn höre» gewohut über die rohe Sprache der gegnerischen Blätter. Uns sind solche nicht zugänglich, aber das, was die andern in ihrer Bestürzung nnd Angst heraus­sprudelten, dürften dieAntisemiten" kaum überboten haben. Zwischen finstern Prophezeiungen wimmelte es von den gröbsten Schimpfworten. Plötzlich wnrde entdeckt, daß Volkesstimme nicht immer Gottesstimme sei, daß man die Stimmen nicht zähle», sondern wägen müsse. Und da beim Besitze auch die Intelligenz sei, müsse von Rechts wegen das ungünstige Wahlergebnis einfach für ungiltig erklärt werden. Auf allen Seiten snchte man Hilfe, bei den Ungarn, bei den Polen, bei den Tschechen, nnd jede bedenkliche Äußerung in deutschen Zeitungen wurde mit Triumph wiedergegeben, als ob die deutsche Regierung gegen die Wiener Wähler mobilmachen wolle. So erlebte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, von der man nie weiß, wem sie gerade als Sprachrohr dient, die seltne Genngthuung, ob ihrer staatsmäuuische» Weisheit gepriesen zu werden. Das bemerkenswerteste aber leistete die Neue Freie Presse, die allerdings von jeher gelehrt hat, daß sich keiner liberal nennen dürfe, der nicht das freie Spiel der Kräfte, die konfessionslose Schule, die Besetzung aller Staatsämter mit Juden als Glaubensartikel beschwöre, die sich dies­mal jedoch ohne Vorbehalt als Organ des Judeutums bekannte.Persönliche Ge­fühle Vor der Öffentlichkeit auszuspinnen, mag sonst aufdringlich sein," begann der Artikel; aber dieBeleidigung," die von der Wiener Bürgerschaft den Juden durch die Wahlen zugefügt worden ist, zwingt diese, ihre Würde zu wahren.Die Neigung zum Übermut ist uus stets fremd geblieben," heißt es weiter, uud mm werde» die Glaubensgenossen dringend ermahnt, bescheiden und zurückhaltend zu werden, mit ihrem Reichtum nicht zu prunken usw.,das freiwillige Ghetto, das sich jeder durch eignen Entschluß ziehen kann, hat einen großen Vorteil. Es schützt