Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
233
stehen; es ist dvch nicht anzunehmen, daß der Lehrer Schluck über Nacht so geworden ist, wie wir ihn gefunden haben?
Die Frage klang harmlos, aber der Pastor fühlte doch die Kralle, die darin versteckt war, und erwiderte zerknirscht, die Lage der Dinge sei schon lange böse, aber es sei schwer etwas zn machen. Der Lehrer habe einen großen Anhang im Dorfe, er stamme ans einem angesehenen Bauernhöfe, habe eine Baucrntvchter aus Afflebcn zur Frau uud sei mit den einflußreichsteu Leuten des Dorfes verschwägert; die hielten nun alle zusammeu, uud dagegen sei nicht aufzukommen.
Nehmen Sie mirs nicht übel, lieber Herr Pfarrer, erwiderte der Schulrat, nber Sie unterschätzen denn doch Ihre Macht. Nach dem Gesetz vom 11. März 1872 sind Sie preußischer Staatsbeamter. Nicht als Pfarrer, sondern im Auftrage des Staats verwalten Sie Ihr Schulamt. Sie haben die ganze Macht der preußischen Monarchie hinter sich; sie werden sich dvch nicht vor einem Dutzend Banern fürchten? Haben Sie keine Sorge, diesen Herrn Schluck und seine werten Anverwandten wolleu wir schon zahm kriegen.
Da fuhr der Wagen vor, um den Herru Schulrat unch Befflebeu zu bringeu, einem Dorfe, das eine Viertelstunde von Affleben entfernt lag.
In Beffleben ging alles glatt und schon. Der Ortsschulinspeklor war auf dem Platze, die Klasse war in Ordnung, der Herr Kantor unterrichtete mit Eifer. Die Hebamme, die des Mvrgens, als der Herr Schulrat kam, gerade zum Standesamt nach Beffleben gehen mußte, hatte einen Wink erhalten und den Wink weiter befördert. Man war also gesattelt gewesen.
Der Schulrat war denn auch zufrieden. Herr Kautor Amsel, ein ruhiger und bescheidner Mann, nahm die Lobsprüche, die ihm zu teil wnrden, in würdiger Haltung entgegen. Als aber die Verhandlung ans die Wohnungsfrage kam, verwandelte sich die Milch der frommen Denkungsart bei ihm in Gift und Galle. Der bescheidne Mann geriet ganz anßer sich und hielt dem Herrn Schulrat eiue stammende Rede. Herr Rat, rief er, ich lasse Sie nicht fort, Sie müssen hier eingreifen, Sie müssen mir helfen, Sie müssen die Gemeinde zwingen, meine Wvhnung umzubauen. Ich kann es nicht verautwvrten, noch länger in dieser Wohnung zu bleiben, und Sie können es auch nicht verautworteu, daß eiuer Ihrer Lehrer mit seiner Familie in einer solchen Wohnung aushalten muß. Ich bitte Sie iustnudig, sehen Sie sich das Haus au.
Der Schulrat ließ sich nicht lange bitten, er war jn dazu gekommen, sich die Dinge anzusehen.
Die Wohnung sah schlimm ans. Jn der Wohnstube lief das Wasser an den Wänden herunter, in der Küche wuchsen Pilze, im Schlafzimmer, in dem eine dumpfe, ungesunde Luft herrschte, lagen die Kinder krank im Bette. Jetzt knin auch uoch die Frau Kantor hinzu nnd klagte ihr Leid- die Krankheiten hörten das ganze Jahr uicht auf, nnd das liege nur an der ungesunden Wvhnung. Wenn sie länger in der Wvhuuug bleiben müßten, gingen die Kinder zn Gruude, das sei ganz gewiß.
Der Schulrat war starr. Selbst im Osten der Monarchie hätte er svlche ^Lvhuungsverhältuisse für undenkbar gehalten. Wie war es möglich, daß hier in der kultivirtesteu Gegeud des Vaterlandes, unmittelbar nnter deu Augeu der könig- ucheu Regierung, derartige Ungeheuerlichkeiten vorkamen? Der Herr Pastor von ^effleben zog die Achseln bis an die Ohren, war aber auch nicht imstande, des .Kntsels Lösung zu finden. Ob denn noch keine Anzeige gemacht worden sei? fragte der Schulrat. — Jawohl, schon längst; die Sache habe schon mehrmals alle Ju- Unnzen durchlaufen, aber die Beffleber Bauern fänden immer wieder einen neuen Grenzboten IV 1895 3«,