Die unpersönliche Dichtkunst
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ans Ende der Dinge. Aber heute lobt man die alte Zeit und entrüstet sich über die gegenwärtige Zuchtlosigteit aus politischer Berechnung. Unter dem Vorwcmde, für bessere Zucht der Jugend zu sorgen, will man die Pvlizei- und Justizmaßregcln vermehren, von denen man hofft, daß sie die Sozialdemokratie ausrotten werden. Und da ist es nun einer der köstlichsten aller Weltgeschichtsscherze, daß es eben diese durchgreisende Sittigung ist, was die Svzialoemvkrntie erzeugt.
Die unpersönliche Dichtkunst
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ie schrecklichsten Erfindungen der Neuzeit sind offenbar nicht das rauchlose Pulver und das „kleinkalibrige" Gewehr, sondern die Stereotypie uud der Rotationsdruck. Seit das Drucken so leicht und schnell von statten geht, schreit die Masse des Gedruckten geradezu zum Himmel. Aber wie verschwindend klein ist nebe» den Bergen von Tageblättern, Zeitschriften und Büchern, die täglich in die Welt gesetzt werden, die Menge dessen, dem eine Bedeutung über den Tag hinaus zukommt! Und nun gar dessen, das von bleibendem Werte wäre! Was für ein Geschrei haben die „Modernen" um ihre und ihrer Genossen Werke erhoben! Und wer hat sich darum gekümmert? Das Häuflein der Litteraten, das, trotz seines ungesunden Anwachsens, im Vergleich zum ganzen deutschen Lesepublikum doch immer noch klein ist. Aber das Volk? Für das Volk war der ganze Lärm ein Mönchsgezänk. Von den zahllosen Schriftstellern der Berliner Schule hat nur einer die Teilnahme des ganzen Volks, wenigstens Norddeutschlands, auf sich zn lenken vermocht: Hermann Sudermann. Das will zwar nicht viel sagen, denn die gleiche Teilnahme erweckten einst Clauren und Kvtzebue, während Goethe dem Publikum dieser beiden fremd blieb. Aber es ist doch der Mühe wert, die Kunst, die Sudermann vertritt, auf ihre besondre Natur hin zu betrachten und ihren Erzeugnissen eine obere Grenze zu ziehen. Eine untere ist nicht nötig, da sie zweifellos der Vergesfenheit anheimfallen wird.
Das Stück, wodurch der begabte Erzähler und anmutige Plauderer Sudermann über Nacht zum ersten deutschen Dramatiker wurde, war die „Ehre." Die Weisen des Berliner Tageblatts, die von der sozialen Frage so viel verstehen wie der Esel vom Lautenschlagen, nannten es ein soziales Drama. Allerdings
Grcnzboten III 1894 46