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Neue Ziele, neue Wege : 1. Die Grundlagen unsers Staates
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Nene Ziele, neue Wege

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kennt, den sollte wenigstens die Klugheit zurückhalten, die Wiederholung solcher Versuche auch nur andeutungsweise zu empfehlen. Das einzige, was in den Gemütern der Armen und Unterdrückten dem Keimen revolutionärer Gesinnung vorzubeugen vermöchte, das wäre die Religion, oder wenn man will, die Bi­gotterie. Aber die haben unsre Liberalen im protestantischen Teile des Volkes so gründlich zerstört, daß an ihre.Wiederbelebuug gar nicht mehr zu denken ist. Wenn man jetzt durch zahlreiche Kirchenbauten für die Berliner Heiden und durch Kirchenbcsuche hoher Personen unter militärischer Bedeckung die Religion geschwind wieder herzustellen gedenkt, so ist es schwierig, bei diesem Ex­periment ernsthaft zu bleiben.

Aber das Proletariat ist nicht der einzige Gegner des neueu deutschen Staates. Wir haben noch den kvnfessivnelleu Gegensatz. Diesen zu über­winden, war die Meinung der ideal gestimmten unter den Kulturkämpfern. (Was die weniger Idealen dabei dachten und wollten, mag hier unerörtert bleiben.) Der auf falschen Voraussetzungen gebaute Plan ist gescheitert, und der einzige Erfolg hat darin bestanden, daß der katholische Teil der Bevölkerung Deutsch­lands, der dem Prenßentum vorher mir kühl und mißtrauisch gegenüberstand, jetzt von tiefer Abneigung und unversöhnlichem Groll dagegen erfüllt ist. Auch die Katholiken Westfalens und Schlesiens, die durch die weise Politik Friedrichs des Großen für die preußische Negierung und das Haus Hohenzollern inner­lich gewonnen worden waren (das Volk der Rheinprovinz ist dem Prenßentum stets abgeneigt geblieben), sind durch den Kulturkampf beiden gründlich ent­fremdet worden. Diese Lentchen sind soweit loyale Unterthanen, daß sie sich nichts werden zu schulden kommen lassen, aber von Liebe, Anhänglichkeit und Vertrauen keine Spur mehr.

Die Abncignng des katholischen Teils beruht aber uicht bloß auf konfes­sionellen, sondern zugleich auf landschaftlichen und politischen Rücksichten, die uicht wenige protestantische Landsleute mit ihnen teilen. Aus Baiern werden zahlreiche Ausbrüche des wütendsten Hasses gegen Preußen gemeldet, und der bekannte bairische Revolverjournalist hat nur dadurch Einfluß erlangt, daß er sich zum Mundstück dieser Stimmung macht. Wie viel Boden die preußcnfrennd- liche nntionalliberale Partei Badens in dem Volke hat, das sie seit dreißig Iahren beherrscht, hat die Reichstagswahl von 1890 gezeigt, die die national- liberale Vertretung wegfegte, und in den letzten Steuerdebatteu des badischen Landtags haben nicht einmal die nationalliberaleu Abgeordneten die nene Reichs­ter-Reform" zu empfehlen gewagt. Die geheimnisvollen Andeutungen südlich über Spannungen zwischen Berlin uud Stuttgart besagen weiter nichts, daß sich die württcmbergische Regierung der Umarmung Preußens einiger­maßen zu entziehen suchen muß, wenn sie nicht den Boden im eignen Volke verlieren will. Auch in Hessen uud Hannover, uud zwar in rein Protestmä­rschen Kreisen dieser Provinzen, regt sich der Pcirtiknlnrismus.

Grenzboten I 1894 2