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Gin italienischer Katholik über die Freiheit
gelesen. In Frankreich interessiren sich bloß die Frauen für Religion, und die lesen keine „Metaphysik," in Italien und Spanien aber hat der gläubige Teil des Volks vor der Hand noch nicht lesen gelernt.
Die Metaphysik gehört nämlich zu den Dingen, wegen deren sich der Verfasser bei dem einen Leser, den er möglicherweise finden könnte, entschuldigt, und sie ist in der That der Hauptfehler des Buches. Nicht an sich; an sich ist sie ganz vortrefflich. Mit einem kühnen Schritt, ähnlich dem Schritte Spinozas, Fichtes, Hegels und Schelliugs, die sich alle auf den großen Schritt des Weltschöpfers in Michel Angelos Gemälde bernfeu köuneu, mit einem solchen metaphysischen Schritt also gelangt Cenui vom menschlichen Denken zur Idee Gottes und leitet aus dieser die Freiheit des Menschen ab, die er definirt als die Fähigkeit des Willens, die von der Vernunft als geeignet erkannten Mittel zur Erreichung des bemum (ävl LvnL, von den deutschen Genitiven: „des Guten" und „des Gutes" drückt keiner den Begriff genan ans) zu wählen. Nnr Irrtum der durch die Sünde geschwächten Vernunft kann den Menschen verleiten, anstatt des höchsten Gutes eiu Gut untergeordneter Art zum höchsten Ziele seines Strebens zu machen, oder gar, dnrch den bloßen Schein des Guten getäuscht, das Böse zu wählen, das nichts andres ist als ein Mangel am Guten.°'°) Freiheit ist also nicht die Fähigkeit, zwischen Gutem und Bösem zu wählen, denn Böses kann der Mensch überhaupt nicht wollen. Ans der Freiheit entspringt die Pflicht, ans der Pflicht das Recht, das die Rechtsordnung der menschlichen Gesellschaft ergiebt. Auf dieser Grundlage werden dann die Systeme von Spinoza nnd Hobbes, diesen beiden großen und folgerichtigen Freiheitsfeinden, zergliedert und in ihrer ganzen abschreckenden Häßlichkeit und herzlähmenden Furchtbarkeit dargestellt, den beiden großen Freiheitsfreunden aber, Kant und Nousfeau, wird nachgewiesen, daß sie die Freiheit, die sie preisen, nicht zu begründen vermögen.
Das alles ist vortrefflich, aber es kann heutzutage, wo die Frciheitsfrage eine brennende praktische Frage geworden ist, nicht genügen. Was nützt es uns, weun wir die Freiheit im Studirzimmer mit eiserner Logik felsenfest gegründet haben, draußen in den Stürmeu des Lebens aber finden, daß sich die Menschen und die Ereignisse um unsern schöuen Gedankcnbau gar nicht kummern? Von dem „Motivationsprvzesfe," dem die heutigen Denker ein so sorgfältiges Studinm gewidmet haben, sagt Cenni wenig, von den physiologischen Bedingungen des Seeleulebens kein Wort, und die verschiedneu Abhüngigkeits- verhältnisse, denen der eiuzelue sein Stück Freiheit abzuringen hat, stellt er gar nicht dar. Zwar schreibt er viel über das Aufsteigen der europäischen
*) Mit Augustmus hält Cenni dafür, daß Sein und Gntsein vertauschbare Begriffe sind; eben das Seiende ist das Gute; das Böse ist mm nicht einfach das Nichtseiende, sondern ei» Mangel vdcr eine Verderbnis am Sein, z, B. am Beine die Lähmung.