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Juden und Judengenossen
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Juden und Iudengenossen

ie vorauszusehen war, zieht nicht nur die antisemitische Agitation, sondern von ihr nur mittelbar oder gar nicht beeinflußt die anti­semitische Gesinnung immer weitere Kreise und greift immer tiefer. Das beredteste Zeugnis dafür liefert die Debatte vom 28. Januar im preußischen Abgeordnetenhaus. So etwas ist iu der Geschichte des deutschen Parlamentarismus wohl noch nicht dagewesen. In früherer Zeit wurde jede abfällige Äußerung über das Judentum in jeder deutschen parla­mentarischen Versammlung als ein Zeichen mittelalterlicher Unduldsamkeit mit tiefster sittlicher Entrüstung zurückgewiesen, und wer etwas derart vorbrachte, der befand sich von vornherein in hoffnungsloser Defensive. Und jetzt? Der Angreiser und der unbestrittne Sieger in der Redeschlacht war Herr Stöcker, weil er allein die Sachkenntnis nnd den Mut hatte, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, nnd selbst dein nationalen Hauptredner, Herrn Hobrecht, entschlüpfte das Geständnis, daß eine gewisse Abneigung gegen manche Eigen­tümlichkeiten der Juden weit verbreitet sei, daß es also eine Jndenfrage gebe. So weit sind wir schon! Was Stöckers Gegner sonst vorbrachte, macht ent­weder den Eindruck der Vogel-Strauß-Politik, hinter der sich nnr die völlige Ratlosigkeit verbirgt, wie man die Stellung zur Judeufrage mit dem be- schworueu Parteiprogramm in Enklang bringen soll, ohne daß dies darüber in die Brüche geht, oder es läuft auf zwei Beweise hinaus, die beide gleich fadenscheinig sind. Der eine lautet: man darf das, waseinzelne" Juden ^ immerhin recht vieleeinzelne" sündigen, nicht dem Judentum über­haupt anrechnen und also nicht den ganzen Stamm dafür verantwortlich machen. Das darf man aber ganz gewiß, es geschieht auch überall und ist immer geschehen. Was eine Regierung, also einzelne, allerdings die leitenden Kreise, sehlen, das wird oft genug am Volke heimgesucht nach dem alten Satze:

Grenzboten I 1893 39