Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land
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Jeder von den wechselnden Erscheinungen der Wirklichkeit abgezogne Begriff des praktischen Lebens fordert zu seiner Ergänzung eine Idee, die dem schwankenden Begriff als ein festes Musterbild gegenüber steht, dessen Verwirklichung alle Änderungen anzustreben haben. Wenn wir nun finden, daß bei jeder Staatenschöpfuug zwei Mächte zusainmenwirkeu, ein Volk und eine Dynastie, oder eine Aristokratie, oder ein genialer Mann, oder ein revolutionärer Haufen, der dem dunkeln Sehnen der Menge zur Klarheit und ihren vereinzelten Bestrebungen durch Einigung zur Macht verhilft, so erkennen wir daraus, daß im Staatsideal dem Volke seine bestimmte Stelle angewiesen werden muß, und daß mau sich nicht damit begnügen darf, es nur so nebenbei und gelegentlich zu erwähnen. Namentlich über die Streitfrage nach dem Verhältnis der Einzelstaaten zur Zentralgewalt, die den Angelpunkt aller ver- schiednen Auffassungen des deutschen Staatsrechts bildet, wird man niemals ins reine kommen, wenn man nicht untersucht, was das Volk braucht und, wenn auch nur unklar, erstrebt. Wie das Verhältnis im Augenblick ist, das sagt ja die Reichsverfasfuug. Aber wenn wir auch weit entfernt davon sind, an ihr rütteln und sie ändern zu wollen, so kann sie doch so wenig wie irgend ein andres irdisches Wesen unverändert bleiben, und die Richtung, nach der hin sie sich verändert, hängt von dem Verfasfungsideal ab, das den leitenden Kreisen vorschwebt. Je nachdem dieses partikularistisch oder zentralistisch aussieht, wird in jedem einzelnen Streitfalle die Verfassung ausgelegt, und jede solche Auslegung begründet ein Gewohnheitsrecht, wodurch die Verfassung ganz leise uud allmählich in dem einen oder dem andern Sinne umgebildet wird.
Von den beiden vorliegenden Werken läßt sich nun zwar soviel sagen, daß das Hänelsche mehr dem Einheitsstaate und das von Trieps mehr dem Staatenbunde zuneigt, aber ein Ideal stellen sie nicht auf, durften sie vielleicht auch nicht aufstellen, weil dann den Verfassern der Vorwurf hätte gemacht werden können, daß sie statt wissenschaftlicher Werke Parteischriften geliefert hätten. Aber das Volk kann eines Ideals nicht entbehren. Auf die gegenwärtige Stufe unsers Staatslebens sind wir mit Hilfe von zwei Idealen gelangt: dem großdeutscheu und dem großpreußischen, die einander so lange bekämpften, bis es sich zeigte, daß das zweite von der Vorsehung als Werkzeug auserfehen sei, das erste wenigstens teilweise zu verwirklichen. Nun fragt es sich, in welchem Sinne der politische Vildungs- und Umbildungsprozeß in unserm Baterlande weiter gelenkt werden soll. Gar keine Anhaltspnnkte dafür bietet Trieps. Wie wenig sich mit seinen vorsichtig gewundnen Sätzen anfangen läßt, mag folgende Probe zeigen. „Die Teilung der staatlichen Aufgaben unter mehrere Rechtssubjektc bedingt daher die rechtliche Möglichkeit einer zwiefachen Gebietshoheit mit der Maßgabe, daß die Zuständigkeit der beiderseitigen Staatsgewalten entscheidend ist, daß in Anwendung auf die vorliegenden Bundcsverhältnisse, die Kompetenzgrenze zwischen Reich und Einzel- Grenzboten III 18S2 58