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Die Erziehung der Knaben zur praktischen Arbeit :
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Die Erziehung Ser Rnciben zur praktischen Arbeit 545

geistigen Lebens, die Eingangspforten für alle Erfahrungen, die wir machen; sie verkümmern lasfen, heißt das geistige Leben schädigen. Darum vor allem soll ja der Unterricht anschaulich sein, daß er dem Kinde zu klaren Vorstellungen verhelfe. Das Kind lebt in seinen Sinnen und in der sinnenmäßigen An­schauung; die bisherige Erziehung dagegen beschäftigt vorzugsweise die abstrakten Fähigkeiten der Seele. Es gilt, gegeu diese ein Gegengewicht dnrch gründliche Ausbildung des Anschauungslebens und der körperlichen Kräfte zu gewinnen. Die abstrakte Denkfähigkeit entfaltet sich erst spät in ihrer ganzen Stärke, und ihre Überanstrengung in frühen Jahren beeinträchtigt die Lebeusfülle und Jugendfrische des sich entwickelnden Geistes. Mit Recht schrieb jüngst ein schwäbisches Blatt über diese Dinge:Das Kind erschaut eine Welt von Farben, von Licht und von Gegenstünden vor sich, und es hat den ursprüng­lichen Drang, sich dieser Welt zu bemächtigen, so weit seine Kräfte reichen. Man beobachte das Kind, und man wird überall das Gesetz des Erfasfen- wollens aller gegenständlichen Dinge bestätigt finden. In gleicher Weise voll­zieht sich die geistige Entwicklung. Das kindliche Hirn nimmt nicht Begriffe, es nimmt nur Bilder auf; und wenn neue Dinge sich seiner Auffassuugskraft nähern, so verhält es sich nicht nnr lernend, sondern zugleich schöpferisch. Bei diesem Punkte muß die Erziehung einsetzen, wenn sie in naturgemäßer Weise die Seelenkräfte des Kindes entwickeln will. Man gebe dem Kinde Dinge, nicht Namen, Anschauungen, nicht Begriffe; man lehre das Kind die Dinge nicht nur erkennen, sondern gestalten!" Dies thut im vollsten Maße der Handarbeitsunterricht. Gerade um der geistigen Entwicklung des Kindes willen müßte man die Handarbeit Pflegen, denn durch sie und die von ihr vermit­telten Anschauungen wird die Klarheit der Erkenntnis nachdrücklich gefördert. Soviel kann man kühn behaupten, daß kein Unterrichtsfach so sehr der An­schaulichkeit dient, das Beobachten und Erfahren heransfordert, wie die prak­tische Beschäftigung. Der Knabe, der die Säge führt, der mit Hammer uud Zange arbeitet, kommt einfach vom Beobachten nicht los, er muß seine Sinne gebrauchen, sobald er ein Werkzeug in die Hand nimmt. So haben wir in der Handarbeit ein heilsames Gegengewicht gegen die Abwendung vom Be­obachten, die namentlich der Sprachunterricht durch seiue Gewöhnung an mehr inneres Denken, an Abstraktionen hervorruft. Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, daß der Sprach- und Denknnterricht für die Erziehung ent­behrlich wäre, aber ich wünschte ihn ergänzt zu sehen durch Beobachten und Erfahren.

Neben der geistigen Förderung steht aber als Gewinn des Handarbeits­unterrichts die Bildung des Sinnes sür Formenschönheit, die Entwicklung des Geschmacks. Wer möchte leugnen, daß eine Stärkung des Schönheitssinns dem jetzigen Unterrichte sehr heilsam wäre? Schillers Briefe über die ästhe­tische Erziehung des Menschen stellen noch immer sür uns ein unerreichtes Grenzbowi II 1892 69