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Staat und Kirche : geschichtsphilosophische Gedanken 16
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Eigenart nicht zu behaupten vermag, ist gar kein Wesen für sich. Eine Kirche, die sich nicht im Notfalle auch ohne und gegen den Staat zu behaupten ver­möchte, wäre keine Kirche, sondern nur eine Staatsanstalt, die sich fälschlich den Namen Kirche angeeignet hätte. Die Reformisten sind vom ersten Augen­blick an iu allen Ländern geradezu revolutionär aufgetreten und darauf aus­gegangen, die legitimen Regierungen zu stürzen, namentlich wenn es monarchische waren. Frieden mit dem Staat zu halten vermögen sie nur dort, wo sie ent­weder ganz ohnmächtig sind, oder wo sie den Staat unterjocht und eine Theo- kratie aufgerichtet haben. Wo sich bei ihnen der religiöse Glaube bis heute erhalten hat, sind sie auch in diesem Punkte die alten geblieben. Konservative Organe in England berichten zuweilen mehr spöttisch als unwillig über ge­legentliche Ausbrüche eines republikanischen Fanatismus auf Presbyterianer- synoden. Die Abhängigkeit der lutherischen, oder wie sie sich jetzt lieber nennen, evangelischen Landeskirchen von den Staatsregierungen hat Lnther allerdings im Dränge der Not, wie bekannt, verschuldet, aber seinem Geist und Sinn entspricht sie nicht. Die Katholiken haben den großen Reformator weidlich verleumdet, doch kann ich mich nicht erinnern, daß sie ihm je einmal die Qualifikation zum Hofprediger nachgesagt hätten; das wäre anch wirklich die abgeschmackteste aller Verleumdungen. Auf der preußischen Geueralsyuode von 1891 äußerte Professor Beyschlag:Die Hammersteiuscheu Anträge wollen eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Das ist ein fremder Blutstropfen im deutschen Volke, das von Anfang an auf dem innigsten Verhältnis zwischen Staat uud Kirche gebaut ist" (sie!). Das heilige römische Reich deutscher Nation ist zwar, wie alle mittelalterlichen Staaten Enropas, auf das innigste Verhältnis zwischen Staat uud Kirche gebaut ge­wesen, aber das deutsche Volk doch nicht! Die innige Verbindung hat in andern Formen sowohl bei den katholischen wie bei den Protestantischen Völkern bis ins vorige Jahrhundert fortbestanden und ist dann nach und nach gelöst worden. In den evangelischen Staaten Deutschlands hat sie sich allerdings bis heute erhalten, aber es wäre doch allzukühn, aus dem thatsächlichen guten Einvernehmen beider Gewalten die Unmöglichkeit eines Zerwürfnisses folgern zu wollen. Wenn nun ein Hvhenzollernkönig katholisirende Neignngen und Bestrebungen offenbarte, wie würde sich Professor Beyschlag dem gegenüber verhalten? Oder wenn sich ein König von Preußeu die materialistische Welt- nusicht unsrer Zeit so zu eigen machte, wie Friedrich II. den Rationalismus der seinigen, und dabei nicht, wie der große König, ein weiser Staatsmann wäre, sondern eine Jakobinernatur, ein Despot, der seine eigne Ansicht dein Volke aufzunötigen versuchte? Wir verspotteu den Glauben der Katholiken an die Unfehlbarkeit des Papstes, aber die Ansicht, daß der Hvhenzollern- dynastie die Bewahrung des christlichen Glaubens anvertraut sei, scheint doch noch schwächer begründet zu sein, wenn anch augenscheinlich den