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Geschichtsphilosophische Gedanken. 6
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Geschichtsphilosophische Gedanken

mehr, sie müßte ewig stillstehen. Schon dieses allein beweist, daß die Hegelsche Bewegung ein metaphysischer Zauberkreis ist, der in sich selbst zurückkehrt."") Nicht so sehr um die Lösung handelt es sich dabei, als vielmehr um die Arbeit. Nicht die Herbeiführung eines cndgiltigen Zustandes, etwa des tausendjährigen Reiches, ist der Zweck aller Bildungen nnd Zersetzungen, Kämpfe nnd Verträge, sondern gerade umgekehrt eine fortwährende Gleich­gewichtsstörung, die zu immer wechselnder Thätigkeit zwingt und so der Menschennatnr Gelegenheit giebt, alles zu offenbaren, was an Kräften und Anlagen in ihr schlummert. Darum muß jede Einzellösuug neue Fragen und Schwierigkeiten gebären. Nnr so kann jedem einzelnen Menschen jedes Zeit­alters das Arbeitsfeld gesichert werden, auf dem er seine Persönlichkeit zn vollende!? und für seine jenseitige Bestimmung fertig zu machen vermag. Unsre Humanität ist nnr Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blume," überschreibt Herder das fünfte Kapitel des fünften Buches seinerIdeen," und auch Lotze ueunt die Lebensaufgabe des Mensche» eine Übuugsaufgabe. Durch die Verlegung des höchsten Lebenszieles ins Jenseits wird der Wider­spruch gelöst, daß die Sittlichkeit auf das leibliche Gedeiheu des Menschen­geschlechts abzielt und doch dem Einzelnen sehr häufig gebietet, seine eigne leibliche Wohlfahrt zu opfern; was er augeublicklich im Dienste der Gesamt­heit einbüßt, dafür hofft er im Jenseits entschädigt zu werden. Dagegen hat die heute beliebte Redensart keinen Sinn, es sei der Natur uicht um das Individuum," sondern nur um die Gattung zu thuu, darum opfere sie er­barmungslos das Leben und Wohl der Einzelwesen. Die Gattnng ist doch nur in deu Einzelwesen vorhanden; und wenn wir die Artthpen zu deu ewigen göttlichen Ideen (Musterbildern) rechnen, so meinen wir damit eben, daß es ihre Bestimmung sei, in möglichst vielen und möglichst gelungnen Exemplaren ausgeprägt zu werden.

Also der wissenschaftlich längst überwundne Katechismus ist es, deu man uns hier unter dem hochtönenden Namen einer Geschichtsphilosophie aufs ueue zu empfehlen wagt? wird der aufgeklärte Leser unwillig ausrufen, wenn er die Geduld gehabt haben sollte, bis an diese Stelle zu lesen. Doch nicht so ganz Katechismus. Im christlichen Katechismus spricht sich die Auffassung

Dr. P. Barth, Die Geschichtsphilosvphie Hegels und der Hegelianer bis ans Marx, nnd Hcntmann, ein kritischer Versnch (Leipzig, Reislcmd, 1890), S. 20. Die Schrift ist nns zur Besprechung übersandt worden. Wir entledigen uns dieses Auftrages beiläufig an dieser Stelle, indem wir sie als einen scharfsinnigen und gehaltvollen Beitrag zur Geschichtsphilosvphie wie zur Kritik Hegels empfehlen; der Verfasser zeigt sehr gut, wie wenig mit Hegelschcn Formeln, den geschichtlichen Thatsachen gegenüber auszurichten ist. Der Schluß lautet:So lagern über wichtigen Gebieten des deutschen Geisteslebens »och die metaphysischen Nebel. Dieseslbenl nur an einer Stelle ein wenig durch das Licht der modernen Erkenntnis durch­brechen zu helfen, ist die Aufgabe dieser Schrift." Mit dem in unsern Betrachtungen dar­gestellten Gedankenkreise berührt sich der von Barths Schrift fast gar nicht.