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lismus werden darin einer Meinung sein, daß Sardon hier mit den verbrauchtesten Theatermitteln gearbeitet, daß ihn seine viel bewunderte und gepriesene Knnst der Szenenführung verlassen, und daß seine svnst sv bewegliche dramatische Schlagkraft es nur an den Aktschlüssen zu den gröbsten Wirknngen gebracht hat. Überall, wo wir nach langen, ermüdenden Vorbereitungen endlich einmal ein Ereignis zn erwarten berechtigt sind, werden wir durch lange Erzählungen im dürftigsten Chronikenstil abgespeist, und selbst der wichtigste Vorgang des Schauspiels, der Sturz Nobespierres in der Konventssitzung des neuuteu Thermidor, von dem man die entscheidende Wendung in den Schicksalen der Hauptpersonen hofft, klingt nur in dem Jubelgeschrei einer erregten Menge nach, deren Sprecher über die Ereignisse der Sitzung bruchstückweise, etwa wie die Boteu im antiken Drama, in einem Vürean des Wohlfahrtsausschusses berichten, wo der Beamte Charles Labussiore die Personalakten der für die Guillotine bestimmten Opfer der Schreckensherrschaft bis zu ihrer Ablieferung an den öffentlichen Ankläger in Gewahrsam hält.
Dieser Labussi(;re ist eine geschichtliche Persönlichkeit, ein ehemaliger Schauspieler, der sich in seinen lange Jahre nach der Revolution veröffentlichten Denkwürdigkeiten gerühmt hat, sowohl Mitglieder der <üom6Äio tranyMss als andre, grundlos angeschuldigte Personen vor dem Tode durch das Fallbeil gerettet zu haben, indem er ihre Akten vernichten und sie dadurch der Vergessenheit in den Gefängnissen anheimfallen ließ, bis endlich mit dem Sturze des Tyrannen die Stunde der Befreiuug, des allgemeinen Aufatmens schlug. Aus diesem allgemeinen Fall hat sich Sardon für sein Schauspiel einen besonderen zurecht gemacht. Labussierc, der bisher nur aus reiner, unbefangner Menschenliebe die Vorsehung gespielt hat, wird plötzlich, gerade an dem Tage, der das Maß Nobespierres voll macht, durch einen Herzensfreund gerufen, sein menschen- sreundliches Jntriguenspiel zu Gunsten eines geliebten Mädchens geltend zu machen. Martial Hugou, ein Offizier im Heer der französischen Republik, hat durch einen Zufall eine junge Vendeerin kennen gelernt und sich mit ihr verlobt. Er muß seine Braut in Paris zurücklassen, weil ihn seine Pflicht nach Flandern ruft, uud auf die falsche Nachricht von seinem Tode — er war nur iu Kriegsgefangenschaft geraten — legt Fabienne Lecoulteux, um sich einen Zufluchtsort für ihre Zukunft zu gewinnen, ein Nonnengelübde ab. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft trifft Hugon seine Geliebte zufällig au einem Seinequai unter einem Haufen wütender Wäscherinnen, die ihre stille Arbeits- genvssin verfolgen, weil sie ein Kreuz am Halse trägt und die Könige nicht verfluchen will. Wenn Sardon wirklich die Absicht gehabt hat, in den Köpfen seiner Landsleute die Legende der französischen Revolution zu zerstören und zugleich im Spiegel der Vergangenheit die steuerlosen Zustünde der Gegenwart als Zerrbild zu zeigen, so darf man ihm jedenfalls nicht den Vvrwurf machen, Grenzboten I 18»1 72