Geschichisphilosc>phische Gedanken
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Wir verstehen also unter Vollkommenheit die der Lebenslage eines be- stmnnten Menschen angemessene Gemütsverfassung, die Gesundheit seiner Seele, und damit ist ihr Verhältnis zur Glückseligkeit schon gegeben; es ist offenbar ans dieser höhern Daseinsstufe dasselbe, wie ans der niedern das Verhältnis der leiblichen Gesundheit zum leiblichen Wohlbefinden. Jedermann kennt die Bedentnng des Schmerzes »nd des Wohlbefindens im Haushalte des Menscheu- leibes. Daß die Kunde, die sie uns von dem jeweiligen Bauzustande unsrer irdischen Hütte geben, nicht unfehlbar ist, daß ein hohler Zahn, der daS Leben nicht im mindesten gefährdet, Höllenpei» verursacht, während sich ein tötliches Herzleiden nnr durch ganz unbedeutende Belästigungen ankündigt, macht uns an der gewöhnlichen und vollkommeu richtigen Auffassung dieses Verhältnisses nicht irre. Entsprächen den verschiednen Graden der Gesundheit oder der Störung des leiblichen Organismus gauz genau die verschiednen Grade des Wohlbefindens und des Schmerzes, so würden wir, gleich den Tieren, instinktmäßig handeln. Unser Verhalten soll aber durch die Vernunft bestimmt werden. Deshalb dürfen wir nur ganz im allgemeinen die Erfahrung inachen, daß das unserm Körper zuträgliche von dem schädlichen für gewöhnlich durch die ver- schicdueu Empfindungen unterschieden werden kann, die beide erregen, sodaß wir auf diese Empfindungen zwar achten lerne», aber sie uicht zum alleinigen Bestimmungsgrnude für nnsre Handlungen machen. Ganz ebenso sind mit unsern verschiednen Gemütsverfassungen heitere nnd trübe Stimmungen verknüpft, ans denen wir einigermaßen erraten können, ob unsre Seele gesund ist oder nicht. Unfehlbar aber spricht auch das Gewissen nicht, sondern seine Stimme bedarf zum richtigen Verständnis der vernünftigen Auslegung. Welche der beiden Seiten unsrer Seele nun die höhere, der andern übergeordnete sei, die Empfindung oder der Charakter, ist eine müßige Frage. Der Moralist mag fordern, daß wir die Glückseligkeit niemals als Zweck erstteben, sondern, wenn sie nns zu teil wird, als eine unglücklicherweise unvermeidliche und sehr gefährliche Zugabe hinnehmen, aber wenn wir trotzdem recht viel Gutes thu», um glücklich zu sein, so wird sich die Welt darüber uicht zu beklagen habe», und Gott wird es uns hoffentlich verzeihen.
Bekanntlich sind es Kaut »ud Fichte, die sich bemüht habe», Glückseligkeit u»d Güte so weit wie möglich aus einander zn bringen. Der Pädagogische Nutzen dieser strengen Pflichtenlehre ist unbestreitbar, aber ihre Mängel siud es ebenfalls. Kant begründet die Notwendigkeit seines kategorische» Imperativs mit der Erwägung, daß es eine allgemein giltige Richtschnur für unser Handeln geben müsse; die Rücksicht auf unser Wohlbefinden aber könne eine solche nicht abgebe», weil die Ansichte» der Mensche» über das A»ge»ehme und das Unangenehme verschieden seien. Diese Begründung enthalt eine Wahrheit und zwei Irrtümer. Wahr ist, daß es je nach dem verschiednen Geschmack sehr verschiedne Arten von Glückseligkeit giebt; irrig dagegen ist die Ansicht, daß es sich mit der