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Geistesbildung, und erst durch diese Mitarbeit kanu die Sprache ihre ueue Aufgabe erfüllen, eine viele Stämme umfassende Gemeinsprache zu werden. Betrachten wir nur die Gegeusütze: Differenzirung, Zersplitterung bis ins Unendliche — das Ziel des natürlichen SprachlebenS, Einheit und Gleichheit, soweit die deutsche Zunge klingt — das letzte Ziel der Bildungssprache! Daraus läßt sich schon erkennen, wie weit sich unsre Spruche vom Naturzustände entfernt hat.
Die fremden Einflüsse — so kaun mau sie doch wohl ncuuen — auf das Sprachleben sind gar mannichfaltiger Art, und es wird schwer sei», sie im einzelnen genau zu verfolgen. Aber fast alle stehen gewissermaßen in der Gefolgschaft einer neuen Macht, die sich von kleinen Anfängen zu immer größerer Bedeutung entfaltet. Ich habe schon beiläufig darauf hingewiesen, daß das „Denken über die Sprache" mit dein Auftreten der Schrift aufs engste ver- bundeu ist. Hier haben wir den Mittelpunkt, um deu sich alle die neuen Mächte scharen, die fortan — bald hemmend, bald treibend — aus die Sprach- entwickluug einwirken. In dein folgenden mochte ich daher versuchen, besonders die Bedeutung dieser Großmacht für das Leben der Sprache zu kennzeichnen.
Neben der gesprochenen Sprache geht die geschriebene gleichen Schrittes einher; sie sollte von Rechts wegen nichts als ihr getrenes Spiegelbild sein, aber gleich in den ersten Anfängen bietet sie ein mehr oder weniger von der Vorlage abweichendes Bild.
Der Schreiber steht nnter dem Banne der Schrift. Sonst war die Sprache nur Mittel zum Zwecke, die durch Nachahmung uud Gewöhnung erlangte Fähigkeit sich mitzuteilen. Man konnte gar nicht daran denken, die Form des Ausdruckes als etwas Besondres zu betrachten. Für den Schreiber aber ist sie etwas Besondres, für sich Bestehendes, ich möchte sagen etwas Greifbares, das sich in einzelne Teile zerlegen, verbinden und willkürlich verändern läßt. So geht mit der kuustmäßigeu Wiedergabe der Sprachformen durch die Schrift Haud iu Hand die verstaudesmüßige Vetrnchtnng der Sprache als solcher, und an diese schließt sich unabwendbar das Bestreben, den schwankenden Gebranch mit Überlegung festzustellen nnd zu regeln. Wenn wir nnn noch bedenken, daß die ersten Versuche, deutsch zu schreiben, von Männern gemacht wurden, die selbst schau im Besitze einer grammatisch wohl durchgebildete» Schriftsprache waren, der lateinischen, die fortwährend zum Vergleiche mit den barbarischen Ausdrncksformen des Deutschen zwang, daß ferner nnsre Sprache in ein fremdes Lantsystem hineingezwängt wurde, wer könnte da noch glauben, das Niedergeschriebene sei ein unverfälschtes Abbild des Gehörten?
Dieses Nebeneinander von Schrift und mündlicher Rede auf Grund der nns bekannten Thatsachen unsrer Sprachgeschichte möglichst genau zu verfolgen, wäre eine anziehende Aufgabe. Ich wage hier nur einige Andeutungen. Die wichtigste Frage wird immer die sein: I» welchem Maße haben die zuerst