Bildlmgsschwindel und volksbeglückmig
und sittliche Reinheit bedingen sich gegenseitig, es würde wahrscheinlich weniger Sozialdemokraten in Deutschland geben, wenn es dort mehr Bäder gäbe.
Unsre Arbeiter sind zu plumpen, schwerfälligen Wesen geworden, die nicht mehr gehen, sondern watscheln und stolpern, die nicht mehr sprechen, sondern gröhlen und grunzen, die nicht mehr singen, sondern brüllen, und das auch dann nur, wenn sie sich mit Alkohol die gehörige Ballonfüllung verschafft haben. Und seltsam, was diese vierschrötigen Menschen brüllen, sind nicht etwa unsre kernigen Volkslieder, sondern die geilen Kankanmelodien der Modeoperetten, wie: „Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküßt" u. dergl. Man könnte darüber lachen, wenn die Wahrnehmung für deu Kulturhistoriker nicht so überaus traurig wäre. Selbst ius Militär schleichen sich diese Operettenlieder; hier aber sollte man sie mit aller Macht ausmerzen und von oben herab mehr Wert auf die Pflege des echten Soldatenliedes legen; Lente, die diese nicht mehr singen wollen, sind im Felde nicht zu gebrauchen. So viel man auch reden mag, unser Volk ist trotz aller Volksschulen und Gesangvereine arm geworden au seinen Liedern; man gebe ihm seine alten Weisen wieder, denn ein singendes Volk ist ein glückliches Volk.
Wir Norddeutschen könnten in allen diesen Dingen viel, sehr viel von den Süddeutschen und Österreichern lernen; es würde uns wirklich nichts schaden, bei ihnen auch einmal in die Schule zu gehen und unser Volk nach den guteil altdeutschen Sitten und Gebräuchen, die sich im Süden erhalten haben, umzubilden. Uns fehlen die Volkstrachten, die Vvlksspiele, das Volkslied, uns fehlt vor allem das VvlkStheater. Seitdem das Kasperletheater verschwunden ist, hat der gemeine Mann nichts mehr, was seine Schaulust wecken und befriedigen könnte. Was siud ihm alle Zirkusreiter, alle Kunststücke und allegorischen Spiele, wenn der „August" nicht da ist, denn die Volksseele ist eine Kindesseele; was sind ihm alle Lutherfestspiele, weun es sich in dem auftretenden Volke nicht wiedererkennt; was ist ihm die freie Bühne, wenn es sich darin auf dem Misthaufen oder im Schweinestall sieht? Uns Norddeutschen fehlt ein Raimund und ein Anzengrnber, uns fehlt ein wahres Volkstheater! Laßt das Volk nicht lesen, immer lesen und grübeln, laßt es die Dinge sehen und hören. Die gedruckte unsinuige Rede eines Sozialdemokraten beschäftigt den Geist der Fabrikarbeiter monatelang; ein guter Prozeß, der sich einige Tage vor dem Tribunal abspielt, ist für unsre Laudleute ein Unterhaltungsstoff für viele Jahre. Mail konzentrire diese Regungen und schaffe im Volkstheater eine Stätte, wo das Volk ein Spiegelbild seiner Kämpfe und Bestrebungen wiederfindet, wo es seine Schaulust befriedigt, gesnnde Gedanken einsaugt, wo es von seinen Grübeleien abgelenkt und durch eine volkstümliche Kunst über die gefährliche Langeweile und Geistesödc hinweggetragen wird.
In Wien hat man sich bereits zn dieser Anschauung emporgeschwungen; man beschäftigt sich eifrig mit dem Plane, ein Raimund-Theater zu gründen,