Maßgebliches und Unmaßgel'liches
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Über das Verhältnis der Jungdentschen zum Vaterlands und über ihre Verdienste um unsre ^ politische Entwicklung mag gestritten werden; aber schlechthin unzulässig ist es, selbst die bewiesenen Verdienste als ein Gegengewicht für Poetische Geschmacklosigkeiten, für litterarische Barbareien anzuführen. Wenn sich Nerrlich sonst geru auf Arnold Nuge beruft, warum läßt er ihn dann in Bezug auf die jungdeutschen Halbromnne, Halbnovellen, auf die greuclvollen, Mischungen von Leitartikeln und poetischen Ansätzen nicht als Autorität gelten? Es giebt ganze Reihen von Urteilen aus den „Jahrbüchern" uud anderwärts, die gegen anspruchsvolle künstlerische Unzulänglichkeit in den poetisch sein wollenden Werken jungdeutscher Schriftsteller kräftig genug protestiren; gerade Rüge hat mehr als einmal ,,das sittlich Schlechte iu Werken der Kuust uicht unmittelbar als solches, sondern als Häßliches dargestellt," weshalb wird er nun gegen Treitschke ins Feld geführt? Doch Nerrlich findet nun einmal „die geringe dichterische Gestaltungskraft, bei der die Erzählung ein Vehikel für Reflexionen ist" (die er wenigstens sür Theodor Mnndt zugesteht) ausgewogen durch das Verdienst, „Pfeile des Geistes in ihre Zeit hinauszuschicken, um das Volk der Deutschen aufzuregen und aufzuschütteln." Er fordert zu gleicher Zeit die ästhetische Beurteilung dichterischer Leistungen und lehnt diese Beurteilung ab, wenn die Jungdeutschen dabei notwendig zu kurz tommeu.
Die Nerrlichsche Schrift ist uicht der einzige Versuch aus neuerer Zeit, das junge Deutschland rückblickend zu verherrlichen. Wir können nur wünschen, die Lobredner dieser Litteraturepisode brächten es dazn, daß Gutzkows „Maha Guru", „Wally" und „Seraphine," daß Mundts „Madonna" und „Ccirmela," daß Kühnes „Quarantäne im Irrenhaus" einmal wieder von einigen tausend Menschen gelesen, „genossen" werden müßten als das, was sie sein sollen, was sie heißen, als Dichtungen, als Kunstwerke. Wir würden daun wenigstens wieder auf eiu Paar Jahrzehute vor der Behauptung Ruhe haben, daß jeder Kritiker, der diese und ähnliche Leistungen nicht bewundern kann, der wider Heine bei aller Bewunderung eiu Aber hat, iu den Wegen des Hofpredigers Stvcker wandle.
Zn Sudermanns Schauspiel: Die Ehre. In Nr. 20 der Grenzboten ist dieses Schauspiel einer ebenso scharfsinnigen wie zutreffenden Beurteilung unterzogen worden, iu der mit vollem Recht auf die gefährliche» „zersetzenden Tendenzen" des Stücks, auf die in ihm vertretene uud im niedrigsten Bühnenpathos gepredigte „Moral der Gasse" aufmerksam gemacht und die völlige Hohlheit seines „sittlichen Demokratentums" dargethan wird. Nur in einem Punkte befindet sich der Verfasser in einem Irrtum oder doch iu Unkenntnis offenkundiger Thatsachen, wenn er nämlich schreibt, daß „das Schauspiel ohue jede Reklame, ohne die Gunst oder Ungunst irgend welcher Vorurteile lediglich durch sich selbst gewirkt" habe. Wenn er den Vorzug gehabt hätte, der ersten Aufführung des Schauspiels im Berliner Lessingtheater beizuwohnen, oder wenn er sich die Mühe genommen hätte, die fieberhafte Betriebsamkeit eines Teils der Tngespresse seit jener ersten Aufführung zu Gunsten Sudermanns zu verfolgen, so würde der angeführte Satz wahrscheinlich so gelautet haben: „Im goldenen Zeitalter der Reklame ist die journalistische Lärmtrommel für ein litterarisches Erzeugnis noch nie so emsig, so kunstvoll und so unermüdlich bearbeitet worden wie für Sndermanns Schauspiel: Die Ehre." Wer jeuer ersten Ausführung beigewohnt hat, konnte nach einem Blick auf die Zusammensetzung des Publiknms und nach Kenntnis der von dem Berliner Tageblatt geebneten und mit Lorbeer bekränzten litterarischen Laufbahn des Verfassers vor dem Beginu der Vorstellung keiueu Augenblick über