368 Die soziale Frage
die Leute forttreibt. Ja du lieber Himmel! Sein bißcheil Vergnügen will halt jeder Meusch haben, und was der ländliche Arbeiter, der im Sommer Wochentags von früh um vier bis abends acht Uhr schanzt, des Sonntags teils für fünfzig Pfennige, teils kostenlos sich verschaffen kann, ist nicht übermäßig viel. Will man, daß er dem entsage, so muß man ihm entweder die Mönchsgelübde abnehmen oder ihn an die Kette legen. Ohne Gelöbnis und unangebunden bleibt kein gesunder Mensch auf die Dauer an einem Orte, wo ihm verwehrt wird, sich auf seiue Weise zu Vergnügen. Auf feine Weise, das versteht sich von selbst. Mutet man den Pferdeknechten und Stallmägden zu, sich ihre freie Zeit etwa mit Goldschnittlitteratur zu vertreiben, so müssen die Herrschaften ihre Glaeeehnndschuhe ausziehen und selber Mist laden, Kartoffeln und Steine klauben; fein gewordene Knechte und Mügde thun das nicht mehr. Der Verfeinernngsprvzeß macht so hübsche Fortschritte, daß die Eiferer für Volksbilduug ihre helle Freude daran haben müssen. Der Stallmagd wird beigebracht, daß ihr hergebrachtes für die Arbeit in der Mistpfütze allein geeignetes Kostüm unanständig sei. Sie legt Beinkleider uud lange Röcke an. Das ist unbequem uud kostet Geld. Dadurch wird ihr der ohnehin schwere Dienst noch lästiger. Bald findet sie, daß auch die meisten ihrer Verrichtungen an sich schon unanständig seien. Im nächsten Stadtchen sitzt ein Menschenfreund, der — natürlich nur aus reiner Nächstenliebe — der armen Bevölkerung der Umgegend mit einer nenen Industrie unter die Arme greift. Er läßt filiren, häkeln, Wvllfäden knüpfen. Bald sitzen in den benachbarten Dörfern alle Kinder, sitzen und knüpfen, knüpfen von früh bis in die Nacht, knüpfen sich lahm, bucklig, blind und blödsinnig. Auch unsre Kuhmagd greift zur Filetnadel, die sich ja bedeutend leichter handhabt als die Mistgabel. Sie ist nun eine Dame, ein Fräulein, sie stolzirt Sonntags in Kleidern herum, die nach der neuesten Pariser Mode zugeschnitten sind, und siedelt sie in die Stadt über, so kann sie überdies jeden Sonntag zu Tanze gehen. Nach ein paar Jahren verduftet der Wohlthäter der Menschheit, nachdem er einigen tausend jungen Landleuten das Mark aus den Knochen gesogen und zu Gelde gemacht hat. Nuu versuchts unsre Kuhmagd wieder mit Sichel uud Düngergabel. Allein es geht nicht mehr; bei ihrer Tündelarbeit und bei kraftloser Nahrung hat sie ihre Muskelkraft und Gliedergelenkigkeit eingebüßt. So wird von uuserm kräftigen Volke eine Schicht nach der andern verfeinert und verkrüppelt. Es giebt noch andre Dinge, die den Lenten in manchen Gegenden das Leben leid machen. Rigorose Bestrafuug der Schulversäumuisfe gehört auch dahin. In eiuer srühcru Nummer der Grenzboten wurde über das Gegenteil geklagt. Aber man muß die Verhältnisse der armen, dünn bevölkerten Landesteile erwägen: die Schnle weit entfernt; der Weg bei Regenwetter unergründlich, bei Frostwetter Schneeftürmen ausgesetzt; Kleidung und Schuhe schlecht oder gar nicht vorhanden; im Sommer zu Hause kleine Geschwister,
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