Das Nationalgefühl
Dringlicheres beiseite habe liegen lassen, ob nicht gerade der stärkste Tragpfeiler dem herrlich anfragenden Banwerke mangle; es kam nicht zur Erwägung, ob es überhaupt möglich sei, ohne ihn in Festigkeit und Dauer immer weiter zu bauen, ob nicht das Werk eines Tages seinen Schöpfer selber vernichten würde.
Dem Staate der Deutschen stand also jene Blütezeit deutschen Geistes fern. Wie anders in der Anwendung und Beziehung nach allen Richtungen erscheint beim Vergleiche das westliche Nachbarvolk der Franzosen! Was dort in den Werkstätten der Gedanken ausgebildet worden war, das setzte das rasche Volk in baldige Wirklichkeit um, wandte es schnell, ja überschnell an auf die Verhältnisse, in denen es lebte. Die Deutschen hatten zum Teil dieselben Gedankenkeime empfangen, aus denen in der Folge in Frankreich die Ideen und Umwandlungen von 1789 erwuchsen; aber ganz anders, in einem viel idealeren Sinne, hatten sie sie bei sich entwickelt und fortgebildet. Bei ihnen waren jene Gedanken nur übergegangen in die rein abstrakten, geistigen Güter der Nation; nur so war es möglich, daß man in Deutschland, als die Reden aus Frankreichs Konstituante in die Welt hinaustönten, bei zunächst lebhafter geistiger Teilnahme doch rein theoretisch blieb. Freudig begrüßte man in den Anfängen der französischen Umwälzung die Anerkennung der Freiheit des Ichs, man war beglückt über die Ideen der millionenumschlin- - genden Verbrüderung der Völker des Erdrunds, über den Jdealzustcmd der ganzen Menschheit, der in den Versailler Beschlüssen vorgezeichnet schien, man hegte die unbestimmte Erwartung, als würde das fruchtbringende Muster einer vollkommenen Menschheit nun geschaffen werden und erstehen. Aber an praktische Folgerungen zu denken fiel bei den Deutschen niemand ein. Selbst bei den eigentlichen Beamten der deutschen Fürsten betrachtete man die Dinge in Frankreich vielfach nur aus dem Gesichtspunkte des Augenblicks; die baldige Verlegenheit des Königs von Frankreich erschien der preußischen Politik vorteilhaft, insofern er nicht mehr als Bundesgenosse Österreichs in der Frage der östlichen Angelegenheiten in Betracht kommen konnte; nur hie uud da hat der eine oder der andre der deutschen Staatsmänner ein schnelles eignes Verstehen, auch selbst einen überraschenden Weitblick gezeigt. Aber dem Staate nicht unmittelbar verpflichteten Männern der geistigen und gelehrten Berufszweige und Beschäftigungen blieb das Wesen und die notwendige äußere Entwicklung der Revolution überhaupt verborgen. Sie blieben nach wie vor rein unpolitisch und allem Staatlichen gegenüber so fremd und naiv, daß sie imstande waren, aufrichtige Treue und weitgehendste Loyalität mit lobpreisender Pflege der revolutionären Ideen zn verbinden. Freilich wäre man kaum durch alle Zeit so abstrakt geblieben ohne die abstoßende Wendung, die in Frankreich so rasch die Dinge nahmen, und ohne daß man das Ideal geschändet sah, dnrch das man sich den dortigen Wortführern zugewandt fühlte;