010
Hunderts hatte man unter dem Einflüsse der Romantiker die mittelalterliche, auf die Beherrschung Italiens gerichtete Kaiserpvlitik als die glänzendste Kraftentfaltung der „cdelu, schönen Nitterzcit" gepriesen, seit der Mitte des Jahrhunderts hatte, unter dem Eindrucke des Mißlingens des deutschen Einheitswerkes, die entgegengesetzte Auffassung Platz gegriffen, daß die italienische Politik der Kaiser, weil sie von der unmittelbaren Fürsorge für eiue lebensfähige Neichsverfassnng abgelenkt habe, eine verfehlte gewesen sei. Kaemmel zeigt, daß die Beherrschung Italiens und des Papsttums notwendig war, weil die deutsche Verfassung auf der freien Verfügung des Königs über die wirtschaftlichen Kräfte der Kirche beruhte; auch brauchten die überschießeuden kriegerischen Kräfte des Volkes ein Arbeitsfeld, sowie jetzt die überfließende gewerbliche Produktion das deutsche Volk zur Gründung von Handelskolonien gedrängt hat und die allgemeine Übervölkerung den Mangel an Ackerbaukolonien schwer empfinden läßt; „was Italien für die Deutschen war, das ist um dieselbe Zeit Südfrankreich für England oder noch früher England für die Normandie gewesen. In diesen Kämpfen sind die Deutschen zu einer Nation zusammengewachsen, haben sich durchdrungen mit dem stolzen Gefühl des Aufschwungs und der Kraft, haben, von ihm getragen und angeregt durch die engen Beziehungen mit den Ländern der höhern, romanischen Knltnr, znm erstenmale in Kuust und Dichtung eiuen glänzenden Höhepunkt erreicht nnd zugleich den Schritt von der bäuerlich-adlicheu Naturalwirtschaft zum städtischen Leben, znr Geldwirtschaft gethan." Die wärmste Begeisternng für die deutsche Sache, gepaart mit sittlichem Ernste und tiefer Religiosität, durchwehen das ganze Buch; sie erheben und erquicken den Leser, besonders in der Erzählung der deutschen Erhebung gegen Napoleon und in der Darstellung der Reformation.
Die innerliche Verflechtnng des Lebens nnd Wirkens Luthers, dessen Bild als das eines Gottesmnnnes und doch zugleich auch als eiues mitten unter seinen Vvlksgeuosseu stehenden Deutschen gezeichnet ist, mit der gleichzeitigen Geschichte des deutschen Volkes gehört zu den ergreifendsten Stücken des Buches, ebenso die scharfen und packenden Charakteristiken von Karl dem Großen, Heinrich IV., Friedrich Barbarossa, Gustav Adolf, Wollenstem, Friedrich dem Großen, Friedrich Wilhelm IV. und die von Wilhelm I., die den letzten Abschnitt des Buches „Die Gründung des neuen deutschen Reiches" eröffnet. Endlich möchte ich noch auf die gedrüngteu Übersichten hinweisen, die Kaemmel am Eingange oder an, Ende größerer Abschnitte einschiebt. Sie sind so gedankenschwer und wuchtig, daß ihr volles Verständnis allerdings nur dem vorgeschrittenen Laien klar werden wird; auch zeigen sie im Ausdruck, z. B. im Gebrauche der Pronomina, manches Eigenartige. Übrigens aber sind gerade diese Stellen Meisterstucke des historischeu Denkens und zeigen anch am deutlichsten die Meisterschaft, womit der Verfasser über die reichen Mittel der deutschen Sprache verfügt.