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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Wohl ist die übrige Menschheit selten im stände, die Größe der Entdeckungen nnd das Zwingende der Beweisführungen zn begreifen, aber so ergeht es dein Laien ja mit jeder Freimanrerei. Mm, ninß eingeschlvoren nnd in die Kunstsprache eingetveiht sein, dann kommt das Verständnis von selbst. Deshalb glauben wir anch willig, daß in Wien, lvo in diesem August ein anthropologischer Kongreß abgehalten und über alles mögliche und noch einiges andre verhandelt wurde, die Wissenschaft vom Menschen abermals nm ein erkleckliches gefördert worden ist. Vor allem liißt sich ans den Berichten über die Sitzungen und Ansflügc entnehmen,, daß viel und gut gegessen und getrunken worden ist, nnd - wo gute Weine sie begleiten, da fließt die Rede mnnter fort. Nnwilltnrlich erinnert mau sich der schönen Zeit, wo noch alle Fragen der Politik bei derartigen heitern Zusammen­künften spielend gelöst wurden, uud da uun durch Tischreden das deutsche Reich glücklich zu stände gebracht worden ist, so ist es nur billig, dasselbe Uuiversnlmittel jetzt der Wissenschaft zu Gute kommen zu lassen.

Vor allen war der Vorsitzende des Kongresses, Geheimer Rat Virchow, in der Lage, seinem Nedebedürfnisvoll und ganz" zu genügen. In Österreich und in Ungarn, zu Wasser und zu Lande, bei Bier nnd Weil, uud mit irocknem Munde ließ er Worte der Weisheit von seinen Lippen fließen. Mit diesem Gelehrten ergeht es uns eigen. Seine großen Verdienste um die medizinische Wissenschaft werden von den Fachmännern des In- und Auslandes einstimmig anerkannt. Be­giebt er sich aber auf irgend ein Gebiet, auf dem auch der Heilkunde fernstehende zu Hause sind, so fragen alle kopfschüttelnd, ob denn der Redner wirklich derselbe Manu sei, der sonst als gründlicher Forscher, als höchst besonnen i» seinen Ans- sprüchen gepriesen wird. Hier nun war er die verkörperte Anthropologie. Nnd wenn wir uns in Ermangelung von stenographischen Aufzeichnungen an die Be­richte in Zeitungen halten, denen eher alles andre zugetraut werden kann als die Absicht, Herrn Professor Virchow herabzusetzen, so bleibt uns nichts andres übrig als darüber zu seufzen, daß nur von der Anthropologie gnr so wenig verstehen. Es würde sehr weit führen, wollten, wir alle die dunkeln oder nur zu klaren Rede­blüten herzählen, die ihm da in den Mund gelegt worden sind nnd, da sie sämtlich lebhaften Beifall" fanden, Wohl anthropologisch-logisch sein müssen. Denn uur unter der Voraussetzung, daß gewisse Wörter und Wendungenim anthropologischen Sinne" (wie einst impickwickischen Sinne") etwas andres bedeuten als im ge­meinen Sprachgebranche, kann mau den Beifall begreifen.

Dies gilt vor allem von der ersten Ansprache, die ein offenherziges Jgnoramns enthielt uud verkündete, daß der Naturforscher sich an das, was er wirklich weiß, zu halten und keine Anleihen bei Hypothesen zn machen habe. Glänzt diese Wahr­heit nicht dnrch Neuheit, so scheiut sie doch geeignet, manchem eifrigen Sonntcigs- nuthropologen das ganze Vergnügen zn verleiden. Wozu sind denn Hypothesen da, wenn man sich ihrer nicht eben da, wo das Wissen aufhört, bedienen soll! Ebenso verwunderlich war die Nutzanwendung, daß Germanen und Slawen in Eintracht leben konnten, da in ihrer Körperbildung kein Unterschied entdeckt worden sei, ver- wuuderlich nicht nnr deshalb, weil die Gegensätze zwischen den Nationalitäten doch noch durch einige andre Umstände als Knochenban und Haarfarbe bedingt werden, sondern auch, weil mau den Rückschluß machen könnte, daß wirkliche Rassen- verschiedeuheit die Gemeinsamkeit ausschließe. Aber alles das gilt natürlich nnr im anthropologischen Sinne, und der Politiker Virchow würde sich ohne Zweifel ernstlich dagegen verwahren, wenn der Naturforscher Virchow ihm einreden wollte, auch in der Politik dürfe man, nur sagen, was man weiß, uud die Leute seien im