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Versailles, wie das kronprinzliche Tagebuch berichtet, und wie sich dessen Andeutungen weiter erzählen ließen, wenn Indiskretion nicht ein Laster wäre. Statt solcher Ergänzung lassei, wir daher eine andre folgen. Das kronprinzliche Tagebuch in seiner erweiterten Gestalt, seiner später interpvlirten Auflage, enthält Dinge, die nicht in das Kriegstagebnch gehörten, es leidet aber nnch anderseits an dem Mangel, daß es solche nicht bringt, die hinein gehörten, wenn kein falsches Bild entstehen sollte. Es ist auch in jener uingearbeiteten Form unvollständig, nnd das gilt namentlich von seiner Darstellung der Art und Weise, wie sich die Kaiserfrage während der Zeit nach dem Siege bei Sedan im deutschen Hauptquartier entwickelte. Der ganze erste Akt der Verhandlungen über diese Hauptfrage ist in allen Tagebnchsformen weggeblieben, nnd da auch bei unserm ersten Artikel darüber"') ein Mißverständnis möglich ist, so ergänzen wir mit Ausfüllung der Lücke auch diesen. Wir sagten da ohne einschränkende Bemerkung: „Kein Zweifel also, daß Bismarck uud der Verfasser des Kriegstagebuchs, das Professor Geffken auszugsweise veröffentlicht hat, 1L70 zn Versailles dasselbe Ziel vor Augen hatten." Das war der Fall, aber erst in Versailles, nicht von Hause aus, nud nicht, wie aus Geffkeus Auszügen zn schließen ist, hat der Kronprinz den Kanzler, sondern umgekehrt, dieser hat jenen zn seiner Ansicht bekehrt. Die Kaiserfrage war eü? Schauspiel in mehreren Aufzügen, deren dritter die Proklamirung des Kaisers im Schlosse von Versailles war. Den ersten bildete,: die Besprechungen, in denen Bismarck deu Kronprinzen von seiner aus Baden stammenden, zuerst im Jahre 1861 von Sybel in der Schrift „Die deutsche Nation und das Kaiserreich,, ausgesprochen Meinung abzubringen suchte, daß die Kaiseridee undeutsch, daß sie gegen das wahre Interesse der Nation sei, wobei er an die mittelalterlichen Kaiser, an deren Nömerzüge, deren Anspruch auf Weltherrschaft und an Karl den Fünften dachte. Er wollte deshalb ursprünglich uur einen König der Deutschen. Gegen einen Kaiser im mittelalterlichen Sinne ließ sich in der That viel Triftiges einwenden, nur dachte Bismarck, als Vertreter der Kaiseridee, au keinen solchen nnd konnte nicht an etwas der Art denken.
Die Politik der großen Kaiser des Mittelalters war keine nationale, sie opferte vielmehr, wie Sybels vbengenannte Schrift nachweist, das nationale Interesse dein Streben nach thevkratischer Weltherrschaft. Sie hatte nicht das Gedeiheil unsers Volkes als höchsten Zweck im Auge, befruchtete und entwickelte den Keim nnd Kern desselben nicht, sondern hemmte nnd schädigte ihn; sie betrachtete den Bestand der deutschen Nation nur als Mittel für die Ansprüche eines weltumfassenden Ehrgeizes, und sie setzte den germanischen Trieb nach lokaler Selbständigkeit und den romanischen Gedanken einheitlicher Staatsgewalt
*) Grenzbvten, Nr. 47 vvin vorigen Jahre in dem Aufsätze: „Die Stellung Bismcncks des Kronprinzen zu Baiern im Winter 1870" Seite 3S0.