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Litteratur.
Freilich muß man da beim Verfasser eine ganz besondre Gabe und Arbeitskraft voraussetzen. Denn sonst entsteht die Gefahr, daß die Mühe des Einarbeitens in den fremden Stoff zuviel Arbeitskraft wegnimmt, die dann bei der Abfassung des Werkes fehlt. Der Verfasser ist dieser Gefahr nicht entgangen; seine Geschichte der christlichen Ethik macht den Eindruck eiues mit Kohle und Wischer angelegten Bildes; es fehlen vielfach noch die bestimmten scharfen Linien, welche zur Vollendung nötig siud. Es sind Bestandteile von biblischer Theologie, Dogmengeschichte und Kirchengeschichtc, welche unter dem allgemeinen Gesichtspuukte der Sittenlehre und vom Standpunkte der Tübinger Schule aus Darstellung finden; eine scharfe Abgrenzung des Stoffes, eine sichere Führung der geschichtlichen Hauptlinien bleibt zu wünschen.
Sein sehr negativer Standpunkt trägt dazu bei, dem Verfasser die Arbeit zu erschweren. Er findet, daß das Gebot: „So sollst du sein, das sollst du thun, jenes lassen" auf der einen Seite, ans der andern Seite das NichtVermögen und dss Anklammern an die göttliche Gnade und Hilfe einen Dnalismns im Christentum darstelle, der die Individualität auseinanderreißc. „Die Frage nach Gnade uud Freiheit bleibt ewig uugclöst im Christentum. Sie ist der tiefste Ausdruck für deu Dualismus zwischen Göttlichem und Menschlichem oder psychologisch ausgedeutet zwischen Religion und Sittlichkeit, und so werden wir auch hier wieder auf die Frage zurückgetrieben, ob Sittlichkeit mit Religion möglich sei." Von diesem Standpunkte ans, mit dem Zweifel im Herzen, ob es christliche Ethik gebe, eine Geschichte der christlichen Ethik zu schreiben, ist eine undankbare Sache. Dem Verfasser ist Christus auf dem Gebiete des Ethisch-Religiösen eine schöne Seele, wie Goethe auf dem Gebiete des Schönen oder Sokrates auf dem Gebiete des Guten. Nur dem Schmerze gegenüber war er zu zaghaft. Keiu Wort Jesu läßt vermuten, daß er geglaubt habe, ohne ihn sei die Erfüllung der Gerechtigkeit den Menschen unmöglich. Uebrigens ist er auch, da er sich von Maria salben läßt, der Verfeinerung der Sitten und Verschönerung des Lebens nicht so ganz abgeneigt. Der Verfasser entnimmt und deutet aus dem Evangelium Matthäi, was ihm zu seinem Bilde Paßt; daß Christus au der fraglichen Stelle sagt: Solches hat sie gethan zn meinem Begräbnis, daß das Zeugnis von seiner Mes- sianität die Grundlinie des ganzen Evangeliums ist, daß das Wunder wesentlich zu dem Bilde Christi nach Matthäus gehört, daß Matthäus 20, 28 das Erlösungswerk als Zweck seines Lebens bezeichnet wird, kommt nicht weiter in Betracht. Paulus ist dem Verfasser — während Christus nur Ethiker war — der Schöpfer der christlichen Lehre, welche er auf rabbinisch-juristische Grundlage stellte, als Ethiker ist er uach rabbinischem Vorbilde Kasuist und wenig hervorragend. Der Verfasser der Offenbarung ist ein jüdischer Partikularist, der sich in seinem Bnche in seiner ganzen Engherzigkeit und Lieblosigkeit zeigt; der Hebräerbrief mit seiner bodenlosen Allegoristerei ist alexandrinisch, Johannes ein geistvoller Religionsphilosoph aus dem zweiten Jahrhundert. Und Luther ist nicht Reformator, sondern Religionsstifter. Er ist es, welcher durch „Entprofanisirung" der Laienwelt den oben bezeichneten Dualismus im Christentum — wenigstens im Prinzip — beseitigt hat.
Man kann nicht behaupten, daß diese Porträts eine überzeugende Aehnlichkeit besäßen. Daß das Werk Zieglcrs auch seine Vorzüge hat, daß es sich durch äußere Uebersichtlichkeit und klare Sprache auszeichnet, soll nicht verschwiegen werden.
Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.