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Auf dem Stilfser Joch :
(Fortsetzung)
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Auf dem Stilfser Zoch.

Und die Frau?

Wir kommen ja bald zum Schluß, uur Geduld! Keller wollte den Skandal eines Eheprozesses vermeiden; er gab seiner Frau eine bestimmte Summe, die sie alljährlich erhob, uud wollte nichts mehr von ihr hören. Da fügte es der Glücksfall, daß sie nach etwa sechs Jahren starb. Bis zu diesem Tode hatte Keller ganz zurückgezogen gelebt und sich lediglich mit philosophischen Studien beschäftigt. Das aber war für ihn ein neues Unglück, denn die Philosophie ist ein Arzt, dessen Mixturen nur für gut geschulte Magen taugen. Wenn er zu der Erkenntnis gelangte, daß die Erziehung seiner Fran die Ursache seines ehelichen Mißgeschickes gewesen war, so war diese Betrachtung gewiß richtig. Be­denklicher aber ist es schon, daß er der Meinung ist, man müsse die Mädchen nicht abgeschlossen erziehen, sondern frühzeitig ins Leben einführen, damit sie bei Zeiten die ihnen drohenden Gefahren kennen lernen, ehe die Phantasie mit ihrem Verstände davoneilt.

Vroni war kaum erwachsen, als sie überallhin allein ausging, an allen Gesprächen älterer Personen anstandslos teilnahm, im Haushalte wie iu ihrer Toilette selbständig nach ihrem Gutdünken handeln konnte. Sie ist in allen freien und ritterlichen Künsten geübt. Von den ersteren wirst du es besser wissen als ich; was aber die letztern angeht, so kannst du ihr jeden Morgen und Abend hoch zu Rosse im Grunewald begegnen, mit einem Gefolge, das sich aus Offi­zieren der halben Armee zusammensetzt; Juristen sind nicht darunter, deun wir inilitss togati haben es selten bis zur Kavallerie gebracht, uud berittene Nafaels habe ich auch noch nicht gefuuden.

Diese Anschauungen, schaltete Harald ein, sind gewiß verfehlt und haben ihren Grund in der leidigen Generalisirungssucht des Meuschcu, mit welcher er aus einem vereinzelten Vorkommnis ein ganzes Lehrgebäude aufrichtet.

Ja, und wenn das nur alles wäre; aber die Philosophie und zwar die praktische Philosophie" von Papa Keller ist noch lange nicht zu Ende. Dn scheinst in der That in Wvlkeukukuksheim zu leben, daß du von diesen Speziali­täten unsrer guten Weltstadt nicht einmal sprechen gehört hast. Diese philo­sophischen Studien und ich bin oft geuug das Opfer Kellerscher Weltweisheit in der Unterhaltung gewesen führten deu Maun zu der Überzeugung, daß alles Übel ans Erden von der Genußsucht im wörtlichen Sinne stamme, das heißt von dem Essen und Trinken, wie es jetzt auf dem Boden unsrer Kultur gäug und gebe ist. Er erinnerte sich, daß die beste Zeit bei seiner Frau diejenige gewesen sei, in welcher sie auf dem Lande meist von Gemüsen und Früchten uud nur selten von Fleischnahrnng gelebt habe. Als er zu dieser Erkenntnis gelangt war, fing er an, Vegetaricmer zu werden und seine Tochter vegetarianisch aufzuziehen.

Das letztere ist mir bekannt, erwiederte Harald, Fräulein Keller hat nur einmal davon erzählt.

Dann kennst du also auch ihr Asyl?