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Wer ist nun aber dieser Geist, der über die Menge ausgegossen wird und sie erleuchtet, der unter den Vielen eine Einheit herstellt, oder, um auf eiu schon gebrauchtes Gleichnis zurückzukommen, dieser elektrische Fuuke, der die trübe, chaotische Substanz mit eiuem Schlage in ein reines, krystallinisches Gebilde verwandelt? Kein andrer ist dieser Geist, als der in jedem Menschen wohnt, der immer da ist, aber oft schlummernd, sciu selbst uicht bewußt, unklar, gehemmt in seinen Neigungen nud Kuudgebuugen durch allerlei egoistische Triebe und Empfindungen, durch Stolz, Kummer, Sorge — der Meuscheugeist, Uud was diesen Geist plötzlich erweckt, ihn zum Bewußtsein bringt, ihm eine Stimme giebt, ihn von allen Fesseln befreit, das ist wieder der Meuscheugeist, und zwar der, der im Genie, im Künstler wohnt und durch deu Mund dieses Auserwählteu den freudigen Weckruf ertönen läßt,
Uud in diesem Sinne weist Goethe die frivole Ansicht vom Publiknm, die er selbst den spekulativem Theaterdirektor hat aussprechen lassen, zurück, indem er den Dichter endlich in heiliger Entrüstung ausrufen läßt:
Geh hin und such' dir einen andern Knecht!
Der Dichter svllte wohl das höchste Recht,
Das Menschenrecht, das ihn: Natur vergönnt,
Um deinetwillen freventlich verscherzen!
Wodurch bewegt er alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dring!
Und in sein Herz die Welt znrnckeschlingt?
Wenn die Natur des FadenS ew'ge Länge,
Gleichgiltig drehend, auf die Spindel zwingt,
Wenn aller Wesen unharmvn'sche Menge
Verdrießlich durch einander klingt;
Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend nb, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?
Wer läßt den Stnrm der Leidenschaften wüten?
Das Abendrot im ernsten Sinne glühn?
Wer schüttet alle schönen Frnhlüigsblüten
Auf der Geliebten Pfade hin?
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?
Wer sichert den Olhmp, vereinet Götter?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart!
Das Höchste, das Beste, des Menschen Kraft ist es also, wodurch der Künstler auf die Menge wirken soll; den Menschen soll er in ihr erwecken, und er könnte diese Aufgabe nie erfüllen, wenn nicht in jedem des Menschen Kraft lebendig wäre. Und der Künstler selbst ist es, der ans der Menge ein Publikum macht, sein Publikum, und in je weitere Kreise seine Stimme dringt,
Grenzbotcn I. 1885.. 19