Das Testament eines Deutschen.
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auseinander gegangen. Das reale Leben, die Arbeit für die materiellen Grundlagen der Kultur und für die staatliche nnd gesellschaftliche Ordnung, hat sich fchrvff von dein religiösen geschieden. Immer von neuem giebt sich das Streben kund, in der mechanischen Anordnung der Dinge ihre einzige Bedeutung zu erkennen. Demgemäß mnß an die Stelle der Ehrfnrcht, mit der Andersdenkende in der Erscheinnngswelt die lückenhafte» und vereinzelten Allsprägungen eines Weltgedankens finden, die Bewnndernng des Weltmechanismus treten. Ohne Zweifel kann ans dieser Art der Betrachtung ein Gefühl entstehen, das dem religiösen nahe verwandt ist. Dieses Gefühl der Erhabenheit wird nm so lebendiger werden, als die auf Zergliederung des Mechanismus bedachte Naturwissenschaft tiefere Eiusicht uud weiteren Umblict gestattet. Allein so sicher es den Einzelnen über den Wust alltäglicher Empfindung hiuanstragen mag, so wenig wird es ihu darüber belchreu können, was nun eigentlich der Sinn dieser erhabenen Welt sei, welche Stellung und Aufgabe in ihr der Menschheit und für diese dem einzelnen Menschen zufalle.
Nun ist es eine kindliche Meinung, es könne jemals in einer Weltanschauung ein Arkanum gegen das Überwuchern der niedern Triebe, der Leidenschaften, der Unsittlichkeit gefunden werden. Man wird deshalb von keinem Sittengesetz fordern dürfen, es müsse Übertretungen unmöglich machen. Aber man wird doch ein jedes verwerfen müssen, dessen Voraussetzungen nicht eines lebendigeil und nach haltigen Eindrucks auf Verstand nnd Empfindung der Menschen gewiß sind. Denn sittlich handeln heißt: in der Überzeugung handeln, daß die Handlung im Einklänge mit der allgemeinen Weltordnnng stehe. Aus diesem Grunde hat im Lanfe der Jahrtausende noch jeder Sittenkodex seine Berechtigung und seine Kraft in der Anlehnung an ein metaphysisches Prinzip gesucht, sei es iu der Form der Offenbarung oder in der des philosophischen Gedankens, und nur dnrch solche Anlehnung kann ein künftiges Sittengesetz Wert lind Daner gewinnen. Freilich nicht, weil die Menschheit der Osfenbarnng bedarf, sondern weil sie nnr so gewiß ist, daß ein gesetzmäßiges Handeln zngleich auch ein sittliches, das heißt mit der Weltordnung übereinstinlinendes sein werde. Diese Gewißheit kann aber nur dann zn einer bleibenden werden, wenn jeder Einzelne an sich selbst erproben kann, daß jene über Stellnng und Zweck des Menschen Anskunft gebendeu metaphysischen Gedanken auch sein Empfinden nnd Wollen kräftig anregen, weil sie seinem denkenden Verstände als eine widerspruchslose uud umfassende Anschauung des Übersinnlichen erscheinen. Darin hat jn von jeher der Schwerpunkt anthropomorpher Anschaunngen vom Wesen dieses Übersinnlichen gelegeil, daß es auch dem einfachen Verstände faßlich war, und nnr solange sind solche Anschaunngen fruchtbar uud deshalb gerechtfertigt, als auch der einfache Verstand in ihnen nichts Widersprechendes entdeckt.
Wer unter diesen Voraussetzungen in die Gegenwart blickt, sieht kein erfreuliches Bild. Je gewisser die mächtige Entwicklung der realen Lebenselemente