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Das älteste Christenthum und seine Literatur : 1. Der Kanon.
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Buch, auf welches sie sich stützte, und als auf Grund jener Lehre sich Sekten bildeten,' welche die Kirche von sich ausschloß, wurde der Offenbarung geradezu der apostolische Ursprung abgesprochen. Wie konnte eine Schrift, welche dem jetzigen Bewußtsein der Kirche so wenig entsprach, von einem Jünger des Herrn verfaßt sein? Schon damals machte ein Kirchenlehrer in Alexandria auf die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen der Offenbarung und dem Evangelium des Johannes aufmerksam, die unmöglich von einem und demselben Verfasser herrühren könnten. Aber es waren nur dogmatische, nicht kritische Bedenken, welche ihm die Augen für diese Verschiedenheit öffneten, sonst hätte er nicht aus der Echtheit des Evangeliums auf die Uuechtheit der Offenbarung, sondern umgekehrt aus der Echtheit der Offenbarung auf die Uuechtheit des Evangeliums schließen müssen. Eine Schrift, welche zweifellos zu den ältesten unsres Kanons gehört, wurde so allmälig in die Reihe der zweifelhaften, ja der unechten herabgedrückt, und diese Zweifel kamen im Grund nie mehr völlig zur Nuhe, eben weil die Kirche sich immer weiter entfernte vom Standpunkt jener juden- clmstlichen Vision. Ein umgekehrtes Beispiel haben wir am zweiten Petrus­brief. Wie dort eine alte Schrift aus dogmatischen Gründen mit der Zeit immer ungünstiger behandelt wird, so wird hier aus dogmatischen Gründen eine sehr junge Schrift in kurzer Zeit fast ohne Widerspruch dem Kanon einverleibt. Der zweite Petrusbrief ist gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts im Interesse einer völligen Verschmelzung des paulinischcn und petrinischcn Christenthums, des Glaubens und der Werke geschrieben, und noch bei den Kirchenlehrern am Ende des zweiten und zu Anfang des dritten Jahrhunderts, bei Jrenäus, Tertullian, Cyprian findet sich keine Spur von ihm. Bei Origenes taucht er zum ersten Mal aus. Dieser sowohl als Eusebius führen ihn alsbestritten" auf; gleichwohl hatte schon damals die Kirche sich für seinen Gebrauch entschieden, und die späteren Kirchenlehrer gebrauchen ihn ohne Bedenken als Schrift des Apostels Petrus, wennauch Einzelne noch privatim bescheidene Zweifel äußern. Die praktische Brauchbarkeit und das Interesse, auch Briefe von Petrus im Kanon zn haben, in welchem Paulus so reichlich vertreten ist, entschied über die Bedenken der Kritik. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, auf welchen Gründen das Urtheil der Kirche, ob eine Schrift apostolisch sei oder nicht, beruhte.

Nichts beweist mehr, wie schwankend, unfertig der Kanon während der ersten zwei Jahrhunderte war, als die Menge von Schriften, welche von den ältesten Vätern als inspirirte Glaubcnsurkunden benutzt wurden und allmälig aus dem Gebrauch der Kirche verschwanden. So wird der Hirte des Hermas, eine rioch erhaltene judenchristliche Schrift, von Jrenäus, als kanonisch citirt. von anderen Vätern wenigstens als Schrift von vollständiger dogmatischer Beweiskraft benutzt. Tertullian betrachtet ihn in einer früheren Schrift gleich­falls als ein Buch von kirchlicher Autorität; in einer späteren dagegen fällt er,