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Die architektonischen Bestrebungen unserer Zeit.
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Die Frührenaissance hatte die Verschmelzung der mittelalterlichen und antiken Stilprincipien erstrebt, entsprechend der auf die Versöhnung von Geist und Natur gerichteten Geistesbewegung. Die Versöhnung von Geist und Natur ist aber heute noch das Princip des modernen Ideals. Das siebenzehnte und achtzehnte Jahrhundert hatte die Lehre gegeben, daß schrankenlose Willkür zur Auflösung sühre. Diese Auflösung aber hatte die Revolution am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollzogen. Die neue Zeit nun wandte sich zurück zu den beiden Gedanken der Vergangenheit, dem der mittelalterlichen und dem der antiken Welt, in ihrer Verschmelzung die einzig mögliche, die einzig vernünftige Ausgabe der modernen Zeit findend. Gesetz aller geistigen Entwickelung ist es, aus Bekanntem das Unbekannte, aus Thesis und Anti- thcsis die Synthesis zu erzeugen. Alterthum und Mittelalter sind sich Thesis und Antithesis, aus ihnen heraus nur kann die Synthesis geboren werden. Wie die moderne Geistesrichtung an die des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts anknüpft, ganz ebenso muß die moderne Baukunst auf die künstlerische Thätigkeit des fünfzehnten Jahrhunderts zurückgreifen. Soll sie doch der architektonische Ausdruck des modernen Ideales werden, desselben Ideals, das im fünfzehnten Jahrhundert Form gesunden. So wenig aber das moderne Ideal die blinde Copie des das fünfzehnte Jahrhundert bewegenden Ideals ist, so wenig kann unsere Baukunst eine Copie der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts werden. Ueberwand aber das moderne Ideal die Naivetät und Ursprünglichkeit des fünfzehnten Jahrhunderts durch Klarheit und Erkenntniß, so wird auch unsere Baukunst jener oft kecken Unbefangenheit der Frührenaissance gegenüber den gesteigerten Ansprüchen des Verstandes durch größere kritische Strenge, philosophische Schärfe in der Compofitivn Rechnung zu tragen haben. Der formalen Seite aber, die bisher auf der antik-römischen Kunst basirte, wird aus der wiedergewonnenen Kenntniß, dem innigen Verständniß der griechischen Antike eine höhere Wahrheit und Schönheit erwachsen müssen. Aus solchem Wege entwickelte sich die ncudeutsche Malerschule zu hoher Blüte, auf solchem Wege nur kann die moderne Baukunst ihr Ziel erreichen. Daß Semper in Deutschland zuerst diesen Weg betrat, ist sein Verdienst.
In Sempers Schöpfungen finden wir jene schönen Eigenschaften wieder, die das Wesen der Frührenaissance ausmachten, jene charakteristische Gestaltung