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Die französische Kritik.
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ans dem Streben nach Effecten herzuleiten. Eine Wiedergeburt der Poesie hält er also nur dann für möglich, wenn man sich von diesen materiellen Problemen abwendet uud wieder zu dem Studium desjenigen, was eigentlich der Inhalt aller Poesie sein mnß, znm Studium des menschlichen Geistes zurückkehrt. Blanche steht also keineswegs, wie ein andrer, sehr begabter Krittler, Nisard, auf dem Staudpunkt des einseitigen ClassicismnS, er rechnet vielmehr der romeutischcu Schule sehr hoch an, daß sie die Aufmerksamkeit auf die englischen, deutschen und französischen Dichter gelenkt, und daß sie die Autorität der älteu Kunstrichter er­schüttert hat, aber er läßt auch nur dieses Verdienst, die Geister in Bewegung gesetzt zu haben, bei ihr gelten; einen positiven Gewinn findet er nur in der freiern Behaudluug des Versmaßes, nicht in ihrem Inhalt, denn nm angeblich die historische Wahrheit herzustellen, habeu sie die allgemein menschliche Wahrheit aufgeopfert, und dann wieder vergessen, was sie eigentlich wollten; an Stelle der historischen Wahrheit haben sie wieder die Eingebungen ihrer Phantasie gesetzt. Wir stimmen in allen diesen Punkten mit ihm völlig überein.

Eins aber vermissen wir bei ihm. Seine Kritik, so scharfsinnig nnd gerecht sie meistens ist, bleibt doch einseitig beim Urtheil stehen. Er mißt die Kunst­werke, die er kritisirt, an dem Maßstab seiner Principien nnd spricht darnach Lob oder Tadel ans. Das ist zwar allerdings bei der Kritik die Hauptsache, aber es ist noch nicht Alles. Der Kritiker, der vollständig seine Aufgabe erfüllen will, muß sein Urtheil nicht blos äußerlich aus feststehenden Principien schöpfen, sondern er mnß es zugleich ans dem Innern deö Kunstwerks herzuleiten suchen; er muß sich also bemühe», den Proceß des Schaffens zn belauschen und zu aualysiren. Wenigstens ist das bei bedeutenderen Schöpfuugcu nothwendig; es bei der Be­urtheilung jedes beliebigen Machwerks zn verlangen, wäre eine Thorheit. Aber Manche geht nur in den seltensten Fällen darauf auö. Er beschräukt das Recht der Individualität zu sehr, uud darum wird er wenigstens in seinen Formen häufig trocken und ermüdend. Diese Trockenheit liegt keineswegs in seiner ästhe­tischen Empfänglichkeit, die vielmehr sehr vielseitig ist uud sich allen Seiten des Geistes gerne öffnet, aber er versäumt es, sie zu expliciren, uud darum wird es ihm wenigstens für den ersten Augenblick schwer, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Er verletzt, ohne es zn wollen, denn er steht den Prodnctionen mit dem Anschein der Feindseligkeit, oder wenigstens der Fremdheit gegenüber.

In dieser Beziehung ist unter deu französischen Kritikern St. Beuve sein vollständiger Gegensatz. St. Beuve hat eigeutlich gar leine feste Principien, sondern er geht lediglich darauf aus, sich das individuelle Kunstwerk zn vergegen­wärtigen; wo er ein Urtheil giebt, nimmt er nur aus dem Instinkte. Freilich macht er es nicht so, wie viele unsrer spirituellen Recensenten, die vollständig ihrer Aufgabe zu geuügcu glauben, weun sie ihre Sympathie oder Antipathie in

allerhand bunten Bildern oder in allerhand baroken Einfällen ausdrücken; er

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