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Wer die Frage», die ich hier nur berühren kann, gründlich stu- diren will, dem empfehle ich, Schlegel's dramaturgische Vorlesungen mit Villemain's Abhandlungen über die Literatur und seinen Aussatz über Shakspearc in den Nmiv^iuix mol-niA«« tÜ8tc«ttc>ll<.>8 et liuv- iuiic-8 zu vergleichen. Man wird hier sehen, in welchen Punkteil diese beiden trefflichen Kritiker sich nähern und in welchen sie von einander abweichen. Villemain scheint nur, wenn auch nicht unmittelbar, aus der von Schlegel herrührenden geistigen Bewegung hervorzugehen. Beide haben für das classische Griechenthum eine gleich lebhafte Begeisterung, und beide haben es gründlich studirt. Villemain, obgleich er Schlegel's Ansicht von dem gänzlichen Mangel an Originalität in dem französischen Drama des siebzehnten Jahrhunderts entschieden bekämpft und „mit Verehrung" zu dem Genie Racine's aufblickt, spricht ihm doch das echte Gefühl für das Antike ab, und will nicht in seinen griechisch-französischen Tragödien sein Hauptwerk sehen. Aber indem er dem romantischen Drama und dessen Repräsentanten Shakspeare volle Gerechtigkeit widerfahren laßt, wendet er gegen die Neuromantik alle von Schlegel gebrauchten Gründe. Er verhöhnt jeden Shakspearefanatismus, der nach willkürlichen Theorien die Auswüchse eines großen Genies als seine schönsten uud originellsten Neuerungen darstellen möchte, s-)
In seinem vortrefflichen Gemälde der Werke des achtzehnten Jahrhunderts hat Villemain, indem er auf die glücklichste Weise Biographie, Geschichte und Kritik verbindet, alle früheren Kritiker weit übertroffen. Erschienen sind von diesem Werke Villemains sechs Bände; in dem ersten, der erst neuerdings herausgekommeil ist, behandelt er die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; in den fünf anderen, die nach den Vorlesungen niedergeschrieben sind, einen Theil des MittclalterS und die andere Hälfte deS achtzehnten Jahrhunderts. In dem letzten Theil befinden sich jene schönen Abbandlungen über die englischen und französischen Redner, die in Paris ein Ereigniß waren und durch stenographische Abschriften in ganz Frankreich verbreitet wurden.
*) Siehe den Artikel „Shakspeare und kein Ende" von F. G. Kühne im vorige» Jahrgang der Grenzbotcn.