l i

Die Seebader in Dstende.

An dein äußersten Ende Flanderns, da wo die alten germanischen Laute, dem modernen Deutschland kaum mchr verständlich, mit dem Murmeln der Nordsee sich vermischen, da wo das schmale Meer den Angelsachsen von den Niedcrsachscn, England von Belgien scheidet — da erhebt sich die freundliche Hafenstadt Ostende mit ihrem schlanken Lcuchtthurme, mit ihrem gefährlichen Hafen, mit ihren weißen FcstungSmaucrn und wimmelnden Fi­scherbooten. Den größten Theil des Jahres über sitzt diese Stadt, wie eine trauernde Wittwe, einsam und stille in die nebeligen Wolken gehüllt, die aus dein Meere steigen, als dächte sie an frühere Zeiten und an die harten Schicksale, die sie erlebt; aber kaum daß die Julisonnc ihre heißen Strahlen auf ihr Antlitz wirft, beginnt sie die Augen lächelnd aufzuschlagen uud eiu freund­licher Reiz lagert sich auf ihren Zügen. In ihren öden Straßen, in wel­chen des Winters über nur der hallende Schritt klirrender Schildwachcn und das eintönige Commandowort der Festungsmannschaft sich hören läßt, be­ginnt es lebendig zu werden, lange Wagcnznge, dampfende Locomotivc, rol­len geschäftig durch die Thore; in dem Hafen landen die eiligen Dampfboote und heraus steigt eine neue zauberhafte Welt: fremde Gesichter, fremde Sprache, fremde Trachten bevölkern plötzlich die Straßen und Marktplätze. Die Räume, Hallen und Häuser sind vollgedrängt von wcitkommendcn Gä­sten, uud die naiven Töne der flamändischen Ortssprache werden erstickt von russischen, englischen, deutschen und französischen Lauten.

Das Seebad von Ostcnde — eines der vorzüglichsten in Europa — ist doch erst seit fünf Jahren im Aufschwünge. Früher waren Schevcningen, Helgoland und Norderncp namentlich den deutschen Badereiscnden viel be­kannter. Aber Städte haben ihre Schicksale wie Menschen, und das Glück küßt jeden Morgen einen andern auf die Stirne. Man pflegt gewöhnlich die Ursache des in der neuesten Zeit mit jedem Jahre immer mehr und mehr anwachstndcn Besuchs von Ostende, einzig und allein der Eisenbahn zuzu­schreiben, die in wenigen Stunden die Reisenden von Deutschland und Frank­reich bequem und lustig an den Ort bringt, an welchem sie Stärke und

2*