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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.
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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

nun eintrat, in der fieberheißen Grundstimmung aller Gesellschaftskreise von Paris fanden die neuen Kunst- und Literaturideale ihre beste Unterstützung. Man vergaß, daß der klassische Stil schon einmal die große Revolution und das Weltreich des großen Soldatenkaisers überdauert habe, man erklärte resignirt, wo die alte Dynastie zusammengebrochen sei, möge auch die alte Poesie und zumal die klassische Tragödie hinterdreinstürzen. Durch die Bresche, welche die Julitage geschaffen, zog unter anderm auch die französische Romantik mit klingendem Spiel ein.

Waren es wirklich nur Persönlichkcitskämpfe, wie sie von aller Kunst- und Literaturgeschichte untrennbar sind, die an jenem Februarabend und allen fol­genden Hernaniabenden so dramatische Gestalt gewannen, war es nur jener Streit zwischen alten, im Niedergang begriffenen und jungen, neuaufstrebenden Kräften, der nur ein Sinnbild ist des ewig sich erneuenden Ringens von Alter und Jugend? Oder standen sich in Wahrheit feindliche Prinzipien gegenüber, bei denen der Sieg des einen die endgiltige Niederlage des andern besiegelt? Was wollten die gegensätzlichen Worte klassischer oder romantischer Stil, nationale Tradition oder frisches Leben, innere Wahrheit oder Wahrheit um jeden Preis, gesunder Menschenverstand (von ssns) oder Phantasie, die man sich gegenseitig wie Schleudersteine an die Köpfe warf? Was meinten die einen zu besitzen und zu verlieren, was dachten die andern zu erobern und im Erobern zu geben?

Um die ganze Bedeutung dieser Fragen zu ermessen, um sie richtig beant­worten zu können, ist es immer wieder notwendig, auf jene Eigenart des na­tionalfranzösischen Stils, auf jene Kunstregeln zurückzuweisen, die in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts Boileau-Despreaux in lebendiger Wechsel­wirkung mit den großen schaffenden Talenten seiner Zeit, den Racine und Mö­llere, aufgestellt hatte, und deren Herrschaft dann in zwei Jahrhunderten Wohl gelegentlich übergangen, gelegentlich ignorirt, aber niemals geleugnet, niemals gebrochen worden war. Rief doch längst nach der entscheidenden Niederlage, welche die Boileausche Lehre von der Kunst erhalten hatte, ein Literarhistoriker wie Nisard den Nachfolgern der Romantiker, den siegreichen Modernen trotzig zu:Es giebt keine ästhetische Gesetzgebung, welche dem Genius unsers Landes mehr angemessen wäre."

Wie also war diese Gesetzgebung beschaffen, was hatte sie der französischen Literatur gebracht, welchen Einfluß hatte sie in Wahrheit auf die großen Lei­stungen derselben und ihre ungehenre Geltung über ganz Europa hin erlangt? Was war Ewiges und Echtes in ihr enthalten, daß sich ihr die Dichter des neunzehnten Jahrhunderts so widerspruchslos fügen sollten, wie es die des sieb­zehnten, des großen klassischen und nnter gewissen unwesentlichen Modifikationen auch die des achtzehnten, des philosophischen Jahrhunderts, gethan hatten? In­wiefern konnten die Romantiker beschuldigt werden, barbarische, Herostratische