Paul Lindaus Mayo.
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jemand z. B, bei der Beurteilung der literarischen Produktion des Zeitraums von 1870 bis 1884 ausschließlich auf die Zeitungsstimmen verlassen, so würde sich ihm aus diesem Plebiscit das unabweisbare Resultat ergeben, daß kein zweiter deutscher Schriftsteller dieser Epoche iu alleu Zeitungen deutscher Zunge so oft genannt, gelobt nnd gepriesen und so selten angegriffen, getadelt und verhöhnt worden ist wie Paul Lindan, Wenn Paul Lindau ein neues Lustspiel unter der Feder hat, steigern sich die einzelnen Bulletins über das Befinden des Vaters und des Kindes von den geheimnisvollsten Andeutungen bis zum hellsten Jubelruf. Erst wird geflüstert, dann wird in die Posaune gestoßen. Man wird geuau über die Schwierigkeiten unterrichtet, welche das Ausklügeln eines Packenden Titels verursacht habe. Der eine wird von vornherein verworfen, der andre genehmigt, um dann imch einigen Wochen wieder verworfen zu werden, Weil inzwischen ein andrer Gedanke aufgetaucht ist. Schließlich wird der erste Titel wieder hervorgesucht, und die ganze Zeitungshetze war ein bloßer Kreislauf, Welcher trotzdem sein Ziel erreicht hat, da die Nengier des Publikums aufs höchste gespannt worden ist. Nach dem Titel kommen die Personen. Da wird erzählt, daß der „boshafte Satiriker, der mit rücksichtsloser Hand die Schwächen der Gesellschaft aufdeckt und geißelt, der mit kühnem Griff den Heuchlern .die Maske pom Gesichte reißt," der aber, nebenbei bemerkt, vergnügt ist, wenn ihm niemand auf den Fuß tritt, daß dieser Sonnenheld wie sein Urbild Moliere bestimmte Personen auf die Bühne bringen werde, um die Schuldigen zu bestrafen und denen, die ein schlechtes Gewissen haben, eine flammende Warnungstafel aufzuhängen. Ist das Lustspiel aufgeführt und hat sich herausgestellt, daß die Figuren aus der Rumpelkammer des Herrn von Kvtzebue und der Frau Birch-Pfeiffer aufgescheucht worden sind, so wird dieser Personalbefund sorgfältig verschwiegen, weil sich natürlich kein Zeitungsrcdakteur selbst de- wentirt.
Wenn Paul Lindau nach der Schweiz oder nach Schandau reist, wird dieses Ereignis brühwarm den begierigen Zeituugslcsern mitgeteilt, gewöhnlich unt dem pikanten, verheißungsvollen Zusatz, daß er das begonnene Manuskript eines neuen Lustspiels mitgenommen habe, um es in beschaulicher Ruhe auf ^uisisana oder in einer andern Villeggiatur zu vollenden. Der traditionelle Spott, welcher in fortschrittlichen oder „freisinnigen" Blättern gegen alles, was Dekoration heißt, geübt wird, schweigt sogar, wenn Paul Lindau das Ritterkreuz des weißen Falken oder den ernestinischen Hansorden erhalten hat. Wenn ein Mann imstande ist, selbst die catonische Unbeugsamkeit von starren Republikanern SU brechen, so steht seine literarische Bedeutung außer allem Zweifel, uud noch dazu ein Wann, welcher neuerdings in den Verdacht gekommen ist, durch seine hohe» diplomatischen Verbindungen dem Beginn seiner Laufbahn als fortschrittlicher Zeitungsredakteur in Elbcrfeld abtrünnig zu werden. Der Einfluß dieses Mannes muß ein so fascinire.ndcr sein, daß seW die Reda-kteure der entfern- Grenzbvten III. 1884. 42