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Die konventionellen Lügen der Kultmmenschheit.
heraushören wird. Gemeinsame Handlungen der Wohlthätigkeit werden auf die Handlungen des Kultus folgen. Und wie ganz andre Gemütscmregungeu wird der Mensch in diesen Gemeinfcsten der Zukunft empfinden! Mit der klaren, verständlichen Schönheit des Dichterwortes kann der Mystizismus des Predigers nicht wetteifern. An den menschlichen Leidenschaften eines edcln Dramas erbaut sich ein Geist, für den der Symbolismus einer Messe ohne Verstand, ohne Bedeutung ist. Den Erklärungen eines Gelehrten, der die Erscheinungen der Natur auseinandersetzt, der Rede eines Politikers, der die Tagesfragen der Gemeinde und des Staates behandelt, bringt der Zuhörer ein ungleich lebendigeres, unmittelbareres Interesse entgegen, als dem schwülstigen Gewäsch eines Kanzelredners, der Mythen erzählt oder Dogmen verwässert. Die Adoption von Waisen durch die Gemeinde, die Verteilung von Kleidern und andern Geschenken an arme Kinder nnd Ehrenerweisungen an verdiente Mitbürger in festlichen Räumen, im Beisein der Bevölkerung, unter Begleitung von Gesang und Mnsik, nnter Beobachtung würdiger, feierlicher Formen giebt dem Teilnehmer eine ganz andre Empfindung der wechselseitigen Verpflichtungen der Bürger, der Menschen gegen einander nnd ihrer Ver- knüpfthcit durch ein Band der Zusammengehörigkeit, mit einem Worte der Solidarität, als gemeinsames Eintauchen schmutziger Finger in ein Weihwasserbecken oder gemeinsames Beten und Singen. So stelle ich mir die künftige Kultur vor.
Das Programm, welches hier aufgestellt wird, und welches mich lebhaft an Strauß und seinen „Alten und neuen Glauben" erinnerte, ließ einen solchen Enthusiasmus in mir emporlodern, daß ich sogleich einen Kreis von Freunden und Freundinnen um mich versammelte und es ihnen vorlas. Sie waren gleich mir völlig entzückt. Nur fragte ein junger Mann, der, wie ich zu meinem Leidwesen bemerken muß, kein höheres Glück als das Kartenspielen kennt, ob es im Zukunftsstaat auch erlaubt sein werde, einen Skat zu machen. Ich erwiederte ihm, daß nach meiner Auffassung dem nichts entgegenstehen würde, sobald nur aus jeder Partie wie ein ewiges Grundmotiv der Hinweis auf das Gcsamtdasein der Menschheit herauszuhören wäre, sodaß die Solidarität aller Interessen dabei nicht verloren ginge. Die Frage hatte den anderen Mnt gemacht, und es fragte jemand, wie es mit dem Bier werden würde. Ich sagte ihm, daß es meiner Ansicht nach nicht gegen die Verknüpftheit aller Bürger verstoßen würde, wenn zwischen der Adoption einiger Waisen und der Verteilung von Kleidern an arme Kinder ein und das andre Seidel getrunken würde, anch würde das Bier der künftigen Kultur viel kräftiger sein als das verlogene Getränk unsrer Zeit, nur müsse sich jeder hüten, nachher den Ehrenerweisungen an verdiente Mitbürger trunkenen Mutes zu nahen, da man ihn sonst unter Begleitung von Gesang und Musik aus den festlichen Räumen hinauswerfen würde. Ein Dritter fragte, in Besorgnis wegen der Bühne der Zukunft, ob auch die Balletdamen der neuen Kultusstätte der Menschheit gänzlich der lüsternen Halbnacktheit entbehren und etwa in grünen Beinkleidern und im Seelenwürmer tanzen würden. Er murmelte dazu einige Worte des großen Heiden Goethe, welche ungefähr besagten, er wolle lieber schlechter werden, als sich ennuyiren.