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Gedanken über Goethe : 2. Stände :
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Gedanken über Goethe.

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muß es dann mit ansehen, wie andre, die ein leichteres Gewissen haben, in ihren: Geschäft fortkommen und gedeihen. Durch Schulen wird die Bildung bis in die untersten Schichten verbreitet, aber die Bildung ist nur schön, wenn sie vollendet ist, und da sie das für die Menge nicht sein kann, so giebt sie für die verlorene Sicherheit der Natur keinen oder nur trügerischen Ersatz. Jeder glaubt alles zu verstehen, und je weniger sein Urteil über Menschen und Ver­hältnisse zulangt, mit umso schnöderem, selbstgefälligerem Dünkel giebt er es ab, am liebsten iu der Form höhnischen Witzes, der das Ideal und alles Be­stehende zersetzt.

Weniger als die bürgerliche Mittelklasse hat dieser Verlauf der Dinge den Adel und die höhere Gesellschaft betroffen obgleich auch diese mit jedem Jahre mehr durch die an einen fremden Stamm geknüpfte Plutokratie aus ihrer Stellung gedrängt und durch das Konnubium mit derselben innerlich, bis auf den letzten Blutstropfen und die geheimste Regung des Gemütes und Gewissens, verwandelt wird. Zu Goethes Zeit bildete der Adel noch eine eigne Welt, die seine Hand gleichfalls in sprechenden Lebens- und Sittenbildern vor uns aus­breitet. Wir versuchen auch diese Eigenheiten zu sammeln und sie nach des Dichters Vorgang dem Bürgertum, wie es war und ist, gegenüberzustellen. ^ Schon in den Jugendwcrken finden sich einzelne Züge der Art zerstreut, z. B. in Auerbachs Keller:

Sie sind aus einem hohen Haus,

Sie sehen stolz und unzufrieden aus*)

oder Mephisto zu Gretchcn (um sie als Fräulein zu bezeichnen):

Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf

oder Gretchen allein:

Er sah gewiß recht wacker aus

Und ist aus einem edlen Haus,

Das konnt' ich ihm an der Stirne lesen

Er wär auch sonst nicht so keck gewesen

oder Gretchen von ihrem Schmuck:

Mit dem könnt' eine Edelfrau Am höchsten Feiertage gehn.

Welchen Begriff sich der junge Dichter von der adlich-diplomatischen Gesellschaft machte, geht aus dem zweiten Teil vonWerthers Leiden" besonders deutlich

*) Man vergleiche damit im Philandcr von Sittcwald (wir brauchen unsre heutige Orthographie):Mancher Pfeffersack, Blacker (d. h. Schreiber, Tintcnklcxer) nnd Bären­häuter, sobald er in ein fremdes Land kommt, eine wohlgclöstc Zung hat, saur sehen kann, einen sammeten Mutzen (d. h. Rock, Wams) zahlen kann, will mit Don und Scüor trak- tiret werden." Auch hier also die Unzufriedenheit, das Scmerschen als Kriterium der Vor­nehmheit. Solcher altpopulären Züge, Meinungen, Vorurteile, Sprachwcndungen unzählige bei Goethe.